Commissario Montalbano 02 - Der Hund aus Terracotta
sich ein halbes Glas Whisky pur ein und trank
es auf einen Zug leer. Dann, endlich, die Erlösung: das
Motorengeräusch eines Autos auf der Zufahrt. Er stürzte an
die Tür und riß sie auf. Einem Taxi mit palermitanischem
Nummernschild entstieg ein sehr gut gekleideter älterer Herr,
in der einen Hand einen Stock, in der anderen ein Köfferchen.
Er zahlte, und während das Taxi wendete, blickte er sich um.
Er hielt sich gerade, den Kopf erhoben, und hatte etwas
Gebieterisches an sich. Montalbano hatte sofort das Gefühl,
ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben. Er ging ihm
entgegen.
»Sind hier überall Häuser?« fragte der Alte.
»Ja.«
»Früher war hier gar nichts, nur Gebüsch und Sand und
Meer.«
Sie hatten sich nicht begrüßt, sie hatten sich nicht
einander vorgestellt. Sie kannten sich.
»Ich bin fast blind, ich sehe kaum etwas«, sagte der alte Mann,
als er in der Veranda auf der Bank saß, »aber es scheint mir
hier sehr schön zu sein, es ist so friedlich.«
Jetzt wußte der Commissario, wo er den alten Mann
schon mal gesehen hatte: Es war nicht wirklich er gewesen,
aber sein perfekter Doppelgänger auf einem Foto in der
Umschlagklappe eines Buches von Jörge Luis Borges.
»Möchten Sie etwas essen?«
Der Alte zögerte. »Sie sind sehr freundlich«, sagte er
dann, »aber mir genügt ein kleiner Salat, ein Stückchen
magerer Käse und ein Glas Wein.«
»Kommen Sie mit rein, ich habe den Tisch schon
gedeckt.«
»Essen Sie mit?«
Montalbanos Magen war wie zugeschnürt, außerdem war
er merkwürdig ergriffen. Er log.
»Ich habe schon gegessen.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, hier für mich zu
decken?« Conzare, aufdecken. Rizzitano sprach dieses
sizilianische Wort aus wie ein Fremder, der sich bemüht,
Dialekt zu reden.
»Ich begriff, daß Sie fast alles verstanden hatten«, sagte
Rizzitano, während er langsam aß, »nachdem ich einen Artikel
im ‚Corriere’ gelesen hatte. Wissen Sie, ich kann nicht mehr
fernsehen, ich sehe Schatten, die mir in den Augen weh tun.«
»Mir auch, und ich sehe sehr gut«, sagte Montalbano.
»Daß Sie Lisetta und Mario gefunden hatten, wußte ich
jedoch schon. Ich habe zwei Söhne, einer ist Ingenieur, der
andere Lehrer, wie ich, beide verheiratet. Eine meiner
Schwiegertöchter ist eine fanatische Anhängerin der Lega
Nord und unerträglich dumm. Sie mag mich sehr, hält mich
aber für eine Ausnahme, weil ihrer Meinung nach alle
Süditaliener kriminell oder bestenfalls faul sind. Nie versäumt
sie zu sagen: Haben Sie schon gehört, Papà, bei Ihnen – ‚bei
mir’ heißt von Sizilien bis einschließlich Rom – haben sie
diesen umgebracht, jenen entführt, einen dritten verhaftet, eine
Bombe gelegt, in einer Grotte in Ihrem Dorf haben sie zwei
Jugendliche gefunden, die vor fünfzig Jahren ermordet
wurden...«
»Wie bitte?« unterbrach ihn Montalbano. »Weiß Ihre
Familie denn, daß Sie aus Vigàta sind?«
»Natürlich weiß sie das, aber ich habe niemandem, auch
nicht meiner verstorbenen Frau, gesagt, daß ich in Vigàta noch
Land besitze. Ich habe erzählt, meine Eltern und die meisten
Verwandten seien in den Bomben umgekommen. Sie konnten
mich keinesfalls mit den Toten vom Crasticeddru in
Verbindung bringen, sie wußten nicht, daß er zu meinem
Grund gehört. Aber als ich das erfuhr, wurde ich krank und
bekam hohes Fieber. Alles war mir wieder so entsetzlich
gegenwärtig. Ich habe vorhin den Artikel im ‚Corriere’
erwähnt. Da stand, ein Kommissar aus Vigàta, derselbe, der
die Toten gefunden hatte, habe nicht nur die beiden jungen
Mordopfer
identifizieren
können,
sondern
auch
herausgefunden, daß der Hund aus Terracotta Kytmyr hieß.
Damit war mir klar, daß Sie von meiner Doktorarbeit wußten.
Sie schickten mir also eine Botschaft. Ich habe Zeit verloren,
weil ich meine Söhne überzeugen mußte, mich allein reisen zu
lassen, ich sagte, ich wolle die Gegend, in der ich geboren
wurde und meine Jugend verbracht hatte, vor meinem Tod
noch einmal sehen.«
Montalbano war noch nicht zufrieden, und er hakte nach.
»In Ihrer Familie wußten also alle, daß Sie aus Vigàta waren?«
»Warum hätte ich es verheimlichen sollen? Ich habe nie
meinen Namen geändert, hatte nie falsche Papiere.«
»Heißt das, daß es Ihnen gelungen ist zu verschwinden,
ohne jemals verschwinden zu wollen?«
»Genau. Man wird gefunden, wenn die anderen einen
wirklich finden müssen oder wollen... Jedenfalls
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