Commissario Montalbano 02 - Der Hund aus Terracotta
müssen Sie
mir glauben, daß ich immer unter meinem Namen gelebt habe,
ich habe mich erfolgreich bei Ausschreibungen beworben, ich
habe unterrichtet, ich habe geheiratet und bin Vater geworden,
ich habe Enkel, die meinen Namen tragen. Ich bin in Pension,
und meine Pension läuft auf den Namen Calogero Rizzitano,
geboren in Vigàta.«
»Aber Sie mußten doch, was weiß ich, an die Gemeinde
oder an die Universität schreiben, um die notwendigen
Unterlagen zu bekommen!«
»Natürlich, ich habe hingeschrieben, und sie haben sie
mir geschickt. Commissario, Sie müssen das historisch richtig
sehen. Damals hat kein Mensch nach mir gesucht.«
»Aber Sie haben das Geld, das Ihnen die Gemeinde
wegen der Enteignung Ihres Grundes schuldete, nicht in
Anspruch genommen.«
»Das ist der Punkt. Seit dreißig Jahren hatte ich keinen
Kontakt mehr mit irgendwem in Vigàta. Weil man Unterlagen
aus dem Geburtsort immer seltener braucht, wenn man älter
wird. Aber die Papiere, die ich brauchte, um an das Geld für
die Enteignung zu kommen, die waren riskant. Es hätte sein
können, daß sich jemand an mich erinnert. Und ich hatte mit
Sizilien doch längst abgeschlossen. Ich wollte – und will –
nichts mehr damit zu tun haben. Wenn ich mir mit einem
Spezialgerät das Blut absaugen lassen könnte, das in mir fließt,
wäre ich glücklich.«
»Möchten Sie am Meer spazierengehen?« fragte
Montalbano, als Rizzitano zu Ende gegessen hatte.
Sie waren seit fünf Minuten unterwegs – der Alte stützte
sich auf den Stock und hängte sich mit dem anderen Arm beim
Commissario ein –, da bat Rizzitano: »Erzählen Sie mir, wie
es Ihnen gelungen ist, Lisetta und Mario zu identifizieren?
Und wie Sie darauf gekommen sind, daß ich etwas damit zu
tun hatte? Entschuldigen Sie, aber es strengt mich sehr an,
gleichzeitig zu gehen und zu reden.«
Während Montalbano alles erzählte, verzog der Alte ab
und zu den Mund, als wolle er zu verstehen geben, daß es
nicht so gewesen sei.
Dann spürte Montalbano, wie Rizzitanos Arm auf seinem
immer schwerer wurde; vor lauter Erzählen hatte er gar nicht
gemerkt, daß der alte Mann müde geworden war. »Sollen wir
umkehren?«
Sie setzten sich wieder auf die Bank in der Veranda.
»Nun?« fragte Montalbano. »Möchten Sie mir sagen, wie es
genau war?«
»Natürlich, deswegen bin ich ja hier. Aber es strengt mich
sehr an.«
»Ich werde versuchen, es Ihnen möglichst leicht zu
machen. Wir tun folgendes. Ich werde sagen, wie ich es mir
vorgestellt habe, und Sie korrigieren mich, wenn es falsch ist.«
»Einverstanden.«
»Also, eines Tages Anfang Juli 1943 besuchen Lisetta
und Mario Sie in Ihrem Haus am Fuß des Crasticeddru, wo Sie
zu dieser Zeit allein leben. Lisetta ist aus Serradifalco
weggelaufen, weil sie zu ihrem Freund wollte. Mario Cunich
war Matrose auf dem Versorgungsschiff Pacinotti, das wenige
Tage später die Anker lichten sollte...«
Der alte Mann hob die Hand, und der Commissario
verstummte.
»Verzeihen Sie, aber so war es nicht. Und ich erinnere
mich noch an jede Einzelheit. Die Erinnerung der Alten wird
immer klarer, je mehr Zeit vergeht. Und unerbittlicher. Am
Abend des sechsten Juli, gegen neun, hörte ich, wie jemand
verzweifelt an die Tür hämmerte. Ich öffnete und stand Lisetta
gegenüber, die von zu Hause weggelaufen war. Sie war
vergewaltigt worden.«
»Auf dem Weg von Serradifalco nach Vigàta?«
»Nein. Von ihrem Vater, am Abend zuvor.«
Montalbano schwieg, er mochte nichts sagen. »Und das
ist nur der Anfang, das Schlimmste kommt erst noch. Lisetta
hatte mir anvertraut, daß ihr Vater, Zio Stefano, wie ich ihn
nannte – wir waren verwandt –, sich hin und wieder gewisse
Freiheiten mit ihr herausnahm. Eines Tages fand Stefano
Moscato, der aus dem Gefängnis entlassen und mit seiner
Familie nach Serradifalco geflohen war, die Briefe, die Mario
an seine Tochter geschrieben hatte. Er sagte ihr, er müsse
etwas Wichtiges mit ihr besprechen, nahm sie mit aufs Land,
knallte ihr die Briefe ins Gesicht, schlug sie, vergewaltigte sie.
Lisetta war... sie war noch nie mit einem Mann
zusammengewesen. Sie erzählte niemandem etwas darüber,
sie hatte sehr starke Nerven. Sie lief einfach am nächsten Tag
weg und kam zu mir, der ich ihr mehr als ein Bruder
bedeutete. Tags darauf ging ich ins Dorf, um Mario zu sagen,
daß Lisetta bei mir sei. Mario kam am frühen Nachmittag, ich
ließ sie allein und ging spazieren. Gegen
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