Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
Montalbano im Ton einer Ansagerin im Supermarkt.
Während er auflegte, kam ihm ein Gedanke; daraufhin musste er sich sofort anziehen und das Haus verlassen, ohne sich vorher zu waschen und zu rasieren. In wenigen Minuten war er in Vigàta, und vor dem Büro der »König Midas« wurde er endlich etwas ruhiger: Es war noch geschlossen. Er parkte und blieb im Auto sitzen. Dann sah er im Rückspiegel, wie sich ein alter gelber Cinquecento näherte, ein Liebhaberobjekt. Das Auto fand kurz vor Montalbanos Auto einen Platz. Signorina Mariastella Cosentino stieg bedrückt aus und öffnete die Eingangstür der »König Midas«. Der Commissario ließ ein paar Minuten verstreichen, dann ging er hinein. Mariastella saß schon an ihrem Platz, regungslos, eine Statue, die rechte Hand auf dem Telefon in Erwartung eines Anrufs, jenes speziellen Anrufs, der nie kommen würde. Sie gab nicht auf. Sie besaß keinen Fernseher, und vielleicht hatte sie auch keine Freunde, möglicherweise wusste sie also noch nicht, dass man Pellegrino und Garganos Wagen gefunden hatte. »Guten Morgen, Signorina, wie geht es Ihnen?«
»Es geht, danke.«
Am Klang ihrer Stimme merkte der Commissario, dass Mariastella keine Ainung hatte, was geschehen war. Jetzt musste er die Karte, die er in der Hand hatte, geschickt und klug ausspielen; Mariastella Cosentino war imstande und igelte sich noch mehr ein, als sie es sowieso schon tat. »Wissen Sie schon das Neueste?«, fing er an.
Wie bitte?! Erst nimmst du dir vor, die Angelegenheit geschickt und klug zu handhaben, und dann kommst du mit einem so direkten, brutalen und banalen ersten Satz, dass nicht mal Catarella…? Dann kannst du ja gleich weitermachen und alles niederwalzen, und dann gute Nacht! Dass Mariastella überhaupt zuhörte, war nur daran zu merken, dass sie den Blick auf den Commissario heftete, aber sie öffnete nicht den Mund, stellte keine Frage. »Die Leiche von Giacomo Pellegrino ist gefunden worden.« Herrgott noch mal, würdest du bitte irgendeine Reaktion zeigen?
»Sie war im Meer, im Auto von Ragioniere Gargano.« Endlich tat Mariastella etwas, was sie von einem leblosen Gegenstand zu einer Angehörigen der menschlichen Spezies beförderte. Sie bewegte sich, hob langsam die Hand vom Telefonhörer und faltete sie in die andere, wie zum Gebet. Jetzt waren Mariastellas Augen weit aufgerissen, sie fragten, fragten. Und Montalbano hatte Mitleid und gab ihr Antwort. »Er war nicht darin.«
Mariastellas Augen wurden wieder normal. Wie unabhängig vom übrigen, immer noch reglosen Körper bewegte sich ihre Hand erneut und legte sich langsam auf das Telefon. Das Warten konnte von vorn beginnen. Da überkam Montalbano eine dumpfe Wut. Er steckte den Kopf durch den Schalter und war jetzt Auge in Auge mit der Frau.
»Du weißt ganz genau, dass er dich nie wieder anrufen wird«, zischte er.
Er kam sich vor wie eine Schlange, so eine giftige, der man den Kopf zerquetscht. Wütend verließ er die Agentur.
Im Kommissariat rief er sofort Dottor Pasquano in Montelusa an.
»Montalbano, was wollen Sie. Sie nerven. Soviel ich weiß, ist in Ihrer Gegend niemand umgebracht worden«, sagte der Doktor, der bekannt war für seine Liebenswürdigkeit. »Pellegrino wurde also nicht umgebracht.«
»Wer hat denn so einen Mist erzählt?«
»Sie, Dottore, gerade eben. Bis zum Beweis des Gegenteils ist die Stelle, an der Garganos Auto gefunden wurde, mein Gebiet.«
»Ja, aber es ist nicht Ihr Fall! Der gehört diesem vortrefflichen Guarnotta! Damit Sie Bescheid wissen, der junge Mann wurde erschossen. Ein einziger Schuss ins Gesicht. Mehr kann und will ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Kaufen Sie sich in den nächsten Tagen die Zeitungen, dann erfahren Sie das Ergebnis der Obduktion. Wiederhören.« Das Telefon klingelte.
»Was soll ich machen, soll ich Ihnen das Gespräch durchstellen oder nicht?«
»Catare, wenn du mir nicht sagst, wer am Apparat ist, wie soll ich dann Ja oder Nein sagen?«
»Das stimmt, Dottori. Aber die Frau am Telefon will anonym bleiben, sie sagt mir einfach nicht, wie sie heißt.«
»Stell sie durch.«
» Pronto, Papa?«
Die raue Marlenen-Stimme von Michela Manganaro, dem Luder.
»Was wollen Sie?«
»Ich habe heute Morgen ferngesehen.«
»Stehen Sie so früh auf?«
»Nein, aber ich musste meine Sachen packen. Heute Nachmittag fahre ich nach Palermo, um ein paar Prüfungen abzulegen. Ich werde eine Weile fortsein. Aber ich möchte Sie vorher noch
Weitere Kostenlose Bücher