Commissario Montalbano 10 - Die schwarze Seele des Sommers
dir?«
»Ah, Dottori, Dottori! Da ist ein Mädchen gekommen, für die braucht's Augen, um sie anzusehen! Sie sieht haargenau so aus wie das arme ermordete Mädchen! Oh, heilige Jungfrau, wie schön sie ist! Noch nie hab ich eine gesehen wie sie.«
Es war also die Schönheit, die in großen Lettern, die Catarellas Schritt tänzeln und seinen Blick träumen ließ. »Schick sie herein und sag Fazio Bescheid.« Er sah sie am Ende des Korridors auftauchen. Catarella ging ihr förmlich vornübergefaltet voraus, während er mit der Hand eine merkwürdige Bewegung machte, so als würde er dort, wo sie den Fuß hinsetzen sollte, den Boden wischen. Oder rollte er einen unsichtbaren Teppich vor ihr aus?
Und je weiter die junge Frau sich näherte, je deutlicher die Umrisse wurden, die Augen, die Farbe ihres Haares, umso tiefer versank der Commissario in einem süßen, samtenen Nichts der Glückseligkeit.
Du Haupt mit mattgoldenem Haar
Mit Augen wie der Himmel so blau,
Wer lehrt dich den Zauber, fürwahr,
Dass ich mein Selbst nicht mehr schau?*
(F. Pessoa, 144 Vierzeiler, dt. Übersetzung von Georg Rudolf und Josefine Lind, Ammann-Verlag, Zürich 1995)
Der Vierzeiler von Pessoa tönte in seinem Innern.
Er riss sich zusammen, tauchte aus dem Nichts wieder auf und kehrte in sein Büro zurück.
Aber das gelang nur, weil er sich einen Tiefschlag versetzte, einen heimtückischen, ebenso schmerzhaften wie notwendigen Haken: Sie könnte deine Tochter sein.
»Ich bin Adriana Morreale.«
»Ich bin Salvo Montalbano.«
»Ich entschuldige mich für die Verspätung, aber…« Sie war eine halbe Stunde zu spät.
Sie gaben sich die Hand. Die des Commissario war feucht, die von Adriana trocken. Sie war ganz frisch, duftete nach Seife, so, als würde sie nicht von draußen kommen, sondern wäre gerade eben unter der Dusche gewesen. »Nehmen'Sie doch Platz. Catarella, hast du Fazio Bescheid gesagt?«
»Eh, wie?«
»Hast du Fazio Bescheid gesagt?«
»Kümmere mich sofort darum, Dottori.« Er ging hinaus, den Kopf so weit wie möglich nach hinten gedreht, um den Anblick der jungen Frau bis zum allerletzten Moment auszukosten.
Montalbano nutzte die kleine Verzögerung, um sie anzuschauen, und sie ließ sich anschauen. Bestimmt war sie das gewohnt.
Eng anliegende Jeans über unendlich langen Beinen, ausgeschnittene blaue Bluse, Sandalen. Eins zu null für sie: Ihr Bauch guckte nicht hervor. Es war offensichtlich, dass sie auf einen Büstenhalter verzichtet hatte. Sie trug nicht einmal einen Hauch von Schminke, sie hatte sich überhaupt nicht zurechtgemacht. Aber was hätte sie auch mehr tun können?
Als er sie ansah, machte er den einen oder anderen Unterschied zum Foto ihrer Zwillingsschwester aus. Das mochte auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass Adriana gut sechs Jahre älter war, und das durften keine einfachen Jahre gewesen sein. Die Augen hatten den gleichen Schnitt und waren ebenso blau, doch diese leuchtende Unschuld, die in Rinas Blick lag, fand sich nicht mehr in Adrianas Blick. Und dann hatte die junge Frau, die da vor ihm saß, eine ganz kleine Falte neben dem Mund.
»Sie wohnen bei Ihren Eltern in Vigata?«
»Nein. Ich musste bald einsehen, dass meine Anwesenheit für sie schmerzlich ist. In mir sahen sie meine Schwester, die es nicht mehr gab. Da habe ich, als ich mich immatrikulierte - ich studiere Medizin -, eine Wohnung in Palermo gekauft. Aber ich komme oft her, ich lasse sie nicht gern lange alleine.«
»In welchem Jahr sind Sie?«
»Ich habe mich ins dritte eingeschrieben.« Fazio kam herein. Obwohl er von Catarella vorbereitet worden war, riss er die Augen weit auf, als er sie sah. »Ich heiße Fazio.«
»Ich bin Adriana Morreale.«
»Es ist wohl besser, wenn du die Tür schließt.« Innerhalb von fünf Minuten, sobald alle gehört hätten, wie schön die junge Frau war, wäre auf dem Korridor mehr Verkehr gewesen als auf einer Straße in der Stadt zur Stoßzeit.
Fazio schloss die Tür und setzte sich auf den anderen Stuhl vor dem Schreibtisch. Doch nun saß er direkt neben der jungen Frau. Er zog es vor, mit dem Stuhl nach und nach so weit zur Seite zu rücken, bis er an der Ecke des Schreibtisches angelangt war. Damit war er ihr immer noch näher als Montalbano.
»Ich entschuldige mich, dass ich Sie nicht zu uns nach Hause gebeten habe, Commissario.«
»Aber ich bitte Sie ! Das verstehe ich doch gut.«
»Danke. Stellen Sie mir alle Fragen, die Sie wollen.«
»Ihnen fiel es zu, wie Dottor
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