Commissario Montalbano 10 - Die schwarze Seele des Sommers
Tommaseo uns gesagt hat, der schmerzlichen Pflicht der Identifizierung der Leiche nachzukommen. Es tut mir leid, glauben Sie mir, aber meine Arbeit zwingt mich dazu, und ich entschuldige mich schon jetzt, Ihnen Fragen stellen zu müssen, die…«
Da tat Adriana etwas, das weder Fazio noch Montalbano erwartet hatten. Sie warf den Kopf in den Nacken und schüttetete sich aus vor Lachen.
»Mein Gott, Sie reden ja genauso wie Tommaseo! In fast den gleichen Worten! Müssen Sie alle einen Spezialkurs für geschwollenes Reden absolvieren?« Montalbano fühlte sich gleichzeitig verletzt und befreit. Verletzt, weil er mit Tommaseo verglichen worden war, und befreit, weil er begriffen hatte, dass diese junge Frau keinen Wert auf Förmlichkeiten legte, die brachten sie eher zum Lachen.
»Ich habe Ihnen doch gesagt«, fuhr Adriana fort, »Sie sollen mir alle Fragen stellen, die Sie wollen. Stellen Sie sie, ohne so herumzueiern. Außerdem kommt es mir nicht so vor, als wäre das Ihre Art.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Montalbano. Auch Fazio blickte erleichtert drein. »Anders als Ihre Eltern haben Sie immer vermutet, dass Ihre Schwester tot ist, oder?«
So kamen sie direkt zur Sache, ganz wie sie es wollte und wie es allen angenehm war.
Adriana sah ihn voller Bewunderung an.
»Ja. Allerdings nicht vermutet. Gewusst.«
Montalbano und Fazio zuckten gleichzeitig auf ihren Stühlen leicht zusammen.
»Was heißt gewusst? Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Mündlich keiner.«
»Wie denn dann?«
»Gesagt hat es mir mein Körper. Und ich habe meinen Körper dazu gebracht, mich niemals zu belügen.«
Dreizehn
Was wollte sie damit sagen? »Könnten Sie mir erklären, wie es kam, dass …«
»Das ist nicht ganz einfach. Es hängt damit zusammen, dass wir eineiige Zwillinge waren. Ein Phänomen, das sich nur schwer erklären lässt und gelegentlich bei uns auftrat. Eine Art diffuser, telepathischer Gefühlskommunikation.«
»Können Sie das genauer beschreiben?«
»Sicher. Allerdings will ich gleich klarstellen, dass es sich dabei nicht um ein Phänomen von der Art handelt, dass, wenn sich eine von uns beiden ein Knie aufschürfte, die andere, auch wenn sie noch so weit weg war, einen Schmerz am selben Knie verspürte. Nichts dergleichen. Es handelte sich allenfalls um die Übertragung eines starken Gefühls. Eines Tages starb unsere Nonna, Rina war dabei, ich dagegen war in Fela und spielte mit meinen Cousins. Nun gut, ganz plötzlich wurde ich von einer so tiefen Traurigkeit erfasst, dass ich ohne jeden erkennbaren Anlass in Tränen ausbrach. Rina hatte mir ihre Gefühlslage in genau diesem Augenblick übermittelt.«
»Passierte das immer?«
»Nicht immer.«
»Wo waren Sie an dem Tag, als Ihre Schwester nicht nach Hause zurückkam?«
»Ich war weggefahren, genau am Morgen des 12. Oktober, um meine Tante und meinen Onkel in Montelusa zu besuchen. Ich sollte eigentlich zwei, drei Tage bei ihnen bleiben, kam aber schon am selben Tag spätabends wieder zurück, nachdem Papa bei meinem Onkel angerufen und ihm mitgeteilt hatte, dass Rina verschwunden sei.«
»Sagen Sie … Am Nachmittag oder am Abend des 12. gab es da zwischen Ihnen und Ihrer Schwester… Also, ich meine, diese Kommunikation …«
Montalbano gelang es nicht, die Frage vollständig zu formulieren. Adriana kam ihm zu Hilfe. »Ja, die gab es. Um 19.38 Uhr. Ich hatte instinktiv auf die Uhr geblickt.«
Montalbano und Fazio schauten sich an. »Was geschah da?«
»Ich hatte ein kleines Zimmer im Haus meines Onkels, ich war alleine und überlegte gerade, was ich anziehen sollte, denn wir waren abends bei Freunden zum Essen eingeladen … Plötzlich überfiel mich ein Gefühl, das nicht so war wie sonst, sondern irgendwie körperlich. Sie ist erwürgt worden, nicht?« Sie hatte es fast getroffen.
»Nicht genau. Was hat Ihnen Dottor Tommaseo gesagt?«
»Dottor Tommaseo hat uns gesagt, dass sie ermordet worden sei, allerdings nicht, wie genau. Und er hat gesagt, wo sie gefunden wurde.«
»Als Sie zum Leichenschauhaus gefahren sind, um sie zu identifizieren…«
»Ich habe darum gebeten, dass mir nur die Füße gezeigt würden. Das genügte. Ihr rechter großer Zeh …«
»Ich weiß. Aber hinterher, haben Sie Dottor Tommaseo da nicht gefragt, wie sie gestorben ist?«
»Hören Sie, Commissario, mein einziger Gedanke nach der Identifizierung war, wie ich Dottor Tommaseo am schnellsten wieder loswürde. Er hatte angefangen mich zu trösten, wobei er mir den Rücken
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