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Commissario Montalbano 10 - Die schwarze Seele des Sommers

Commissario Montalbano 10 - Die schwarze Seele des Sommers

Titel: Commissario Montalbano 10 - Die schwarze Seele des Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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als würde sie zu solchen Tricks greifen.
    Oder hatte sie's getan in der Annahme, dass er in seinem Alter längst jenseits von Gut und Böse wäre? Ja, vielleicht war es das.
    Er hatte sich noch nicht von seiner Melancholie erholt, als die junge Frau nach zwei Zügen plötzlich ihre Hand auf die seine legte.
    Obwohl Adriana die Hitze gar nicht zu spüren schien, ja sogar frisch wie die sprichwörtliche Rose wirkte, wunderte sich Montalbano, dass er diese Berührung als glühend empfand. War es die Summe der beiden Hitzen, seiner und der von Adriana, die die Temperatur steigen ließ? Und wenn es nicht so war, mit welcher Temperatur schoss dann das Blut durch ihren Körper? »Sie ist vergewaltigt worden, oder?« Das war die Frage, die Montalbano jeden Augenblick erwartet und befürchtet hatte. Er hatte sich eine schöne, gut gegliederte Antwort zurechtgelegt, die er jetzt vollkommenvergessen hatte. »Nein.«
    Wieso hatte er ihr so geantwortet? Um nicht mit ansehen zu müssen, wie vor ihm schlagartig ihre leuchtende Schönheit verblasste ? »Sie sagen mir nicht die Wahrheit.«
    »Glauben Sie mir, Adriana, die Obduktion hat ergeben, dass…«
    »… sie Jungfrau war?«
    »Ja.«
    »Umso schlimmer«, sagte sie. »Wieso?«
    »Weil die Gewalt dadurch noch schrecklicher wird.« Der Druck ihrer Hand, die jetzt glühte, wurde stärker. »Können wir uns duzen?«, fragte sie ihn. »Wenn Sie wollen … wenn du willst…«
    »Ich will dir etwas anvertrauen.«
    Sie ließ seine Hand los, die sich auf einmal abgekühlt anfühlte, stand auf, nahm den Stuhl, stellte ihn neben Montalbano hin und setzte sich. Jetzt konnte sie leise reden, flüstern.
    »Sie ist vergewaltigt worden, da bin ich mir sicher. Als wir im Kommissariat waren, wollte ich es dir in Gegenwart dieses anderen Mannes nicht sagen. Bei dir ist es anders.«
    »Du hast erwähnt, dass du wenige Minuten vor diesem Schmerz an der Kehle noch etwas anderes gespürt hast.«
    »Ja, ein Gefühl von absoluter, totaler Panik. So etwas wie eine existenzielle Erschütterung. Das hatte ich noch nie.«
    »Erklär mir das genauer.«
    »Mit einem Mal, als ich vor dem Kleiderschrank stand, erschien mir das Bild meiner Schwester im Spiegel. Sie war völlig durcheinander und erschrocken. Im darauffolgenden Augenblick fühlte ich mich, als würde ich in eine totale, grauenhafte Dunkelheit katapultiert. Ich nahm wahr, dass es rings um mich herum düster war, schleimig, ohne Luft, bösartig. Ein Ort, genauer gesagt ein Unort, wo jeder Horror, jede Niedertracht möglich war. Ich wollte schreien, doch meine Stimme versagte. Wie es in Albträumen passiert. Ich weiß, dass ich für ein paar Sekunden blind wurde, ich wankte mit ausgestreckten Armen ins Leere, meine Beine gaben nach, ich stützte mich mit den Händen an der Wand ab, um nicht zu stürzen. Und das war der Augenblick…«
    Sie hielt inne, Montalbano öffnete seinen Mund nicht, er bewegte sich nicht. Einzig der Schweiß begann ihm jetzt von der Stirn zu rinnen.
    »… der Augenblick, wo ich mich beraubt fühlte.«
    »Wie?« Der Commissario konnte diese Frage nicht unterdrücken.
    »Meiner selbst beraubt. Schwer, das in Worte zu fassen. Mit Gewalt, mit Grausamkeit, jemand besaß meinen von mir abgetrennten Körper, um ihn zu erniedrigen, ihn auszulöschen, ihn zum Objekt zu machen, was…« Ihre Stimme brach. »Genug«, sagte Montalbano. Und er nahm ihre Hand in die seine. »Ist es so gewesen?«, fragte sie. »Wir nehmen es an.«
    Wie kam es, dass sie nicht weinte? Ihre Augen waren blau und die Falte neben ihrem Mund war tiefer geworden, aber sie weinte nicht.
    Was war es nur, das ihr diese Kraft verlieh, diese innere Festigkeit? Vielleicht die Tatsache, dass sie von Rinas Tod in dem Augenblick erfuhr, in dem ihre Schwester starb, während ihr Vater und ihre Mutter weiterhin hofften, dass ihre Tochter noch lebte.
    Und in all diesen Jahren hatten sich der Schmerz, die Klagen, die Tränen zu einem Felssplitter verdichtet, den keine Mitleidsgeste Rina und ihr selbst gegenüber mehr auflösen konnte.
    »Vorhin hast du mir gesagt, du hättest das Bild deiner Schwester im Spiegel auftauchen sehen. Was bedeutet das?«
    Sie lächelte fast unmerklich.
    »Es begann als Spiel, wir waren fünf Jahre alt. Wir standen vor einem Spiegel und fingen an zu reden. Aber nicht direkt miteinander. Jede von uns wandte sich an das Spiegelbild der anderen. Das taten wir auch noch, als wir groß waren. Wenn wir uns etwas Ernsthaftes oder Geheimes zu sagen hatten,

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