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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Segel gesetzt hatten, konnte die Galiot vor dem Wind segeln, schoss dabei über die Flussmündung hinaus und mit rasanter Geschwindigkeit weiter gen Osten – als hätten sie die Absicht, an der hundert Meilen entfernten Damiettamündung in den Nil einzufahren oder sich ganz abzusetzen und in irgendeinem anderen Hafen Zuflucht zu suchen. Dem Kapitän des Kanonenbootes blieb nichts anderes übrig, als diesen Köder aufzunehmen und sie mit dem Wind zu jagen. Als er querab zu der Galiot gefahren war und begonnen hatte, sich ihr zu nähern, strich al-Ghuráb die Segel, wendete und ließ die Rudersklaven sich gegen den Wind in die Riemen legen. Als Reaktion darauf drehte auch das Kanonenboot bei. Da ihm aber die Ruder fehlten, musste es gegen den Wind kreuzen, um vorwärtszukommen, und hatte so keine Chance, mit der Galiot mitzuhalten. Der Abstand zwischen den beiden Schiffen, der am Anfang eine halbe Seemeile betragen hatte, vergrößerte sich stetig, während sie auf das Gewirr von ineinandergreifenden und landeinwärts gewachsenen Sandbänken zufuhren, die über die Rosettamündung des Nils wachten.
    Diese Manöver beanspruchten den halben Tag, was Vrej Esphahnian Zeit gab, sich zu beruhigen. Als er wieder in der Lage schien zu sprechen, brachte Jack ihm einen Becher und einen Weinschlauch und setzte sich zu ihm an den Bug – jetzt der am wenigsten faulig riechende Platz auf dem Schiff, da sie in den Wind fuhren.
    »Vergib mir meine Schwäche«, sagte Vrej mit heiserer Stimme. »Als ich Rosetta sah, konnte ich nur noch an die Geschichten denken, die mein Vater mir davon erzählt hat, wie er damals mit seiner Bootsladung Kaffee diesen Ort passierte. Er hatte dieses Boot umsichtig durch zahllose Meerengen und Wasserstraßen, Kanäle und Flussläufe gelenkt, und als er in Rosetta den Zoll passiert hatte und den Fluss
abwärts zur Mündung segelte, öffnete sich vor ihm plötzlich das weite Mittelmeer: für manche ein Symbol des Schreckens und Hort wilder Stürme, für ihn jedoch ein Bild für die Freiheit der Möglichkeiten.Von da aus segelte er auf direktem Weg nach Marseille und...«
    »Ja, ich weiß, führte den Kaffee in Frankreich ein«, ergänzte Jack, der den Rest der Geschichte mindestens so gut kannte wie Vrej selbst. »Nun verzeih mir bitte, wenn ich gewissermaßen gegen den Wind deiner Erzählung kreuze, aber nach der Version deines Bruders erstand dein Vater diese Bootsladung Kaffee doch in Mocha.«
    Darauf Vrej verblüfft: »Ja – Mocha ist die Hafenstadt, in der Kaffee aus Äthiopien, Silber aus Spanien und Gewürze aus Indien zusammenkommen.«
    »Ich habe Landkarten gesehen«, sagte Jack Eindruck schindend, »Landkarten von der ganzen Welt, in einer Bibliothek in Hannover. Und ich meine mich zu erinnern, dass Mocha am Roten Meer liegt.«
    »Ja – wie Nyazi dir bestätigen wird, liegt es in Arabia Felix, am Roten Meer gegenüber von Äthopien.«
    »Und außerdem ist mir so, als mündete das Rote Meer in den Ozean, der sich bis nach Hindustan erstreckt.«
    Vrej schwieg.
    »Wenn es stimmt, dass Kairo die Endstation ist – dass kein Schiff weiter nach Osten fahren kann -, wie hat dein Vater es dann geschafft, sein Schiff von Mocha am Roten Meer bis hierher zu bringen?«
    Vrej saß jetzt mit fest geschlossenen Augen und leise fluchend da.
    »Es muss eine Durchfahrt geben!«, sagte Jack und stand auf, um den anderen die Neuigkeit zuzurufen. Im selben Moment bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung von Vrejs Hand. Eine ganz feine. Und dennoch würde jeder Mann auf der Welt sie bemerken, und viele würden sofort zurückweichen oder sogar nach ihrem Schwert greifen, denn Vrej griff zweifelsohne nach dem Dolch, der in der Schärpe um seine Taille steckte. Seine Hand bewegte sich kaum einen Fingerbreit, bevor er den Impuls bezwang und sie zurückzog. Doch Jack bemerkte es und zögerte und schaute Vrej Esphahnian in die Augen, die vom Weinen rot und geschwollen waren. Darin sah er (natürlich) Traurigkeit, aber keine Mordlust, nur eine Art von Aufgabe. »Das ist der Weingeist, Vrej!«, sagte Jack und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Dann ging er und rief die Verschwörer zur Beratung zusammen.

    In dieser Nacht wurde die Ruhe in der Perückenmacherstraße im Souk von Rosetta durch das laute Hämmern eines Pistolengriffs gegen eine alte Holztür gestört. Ein wütender Mann streckte oben zwischen Fensterläden seinen Kopf heraus, wurde aber gleich viel weniger wütend, als er sah, dass

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