Confusion
Weg führte sie durch den großen Ballsaal des Hôtel Arcachon. Hier freilich verlangsamte sich sein Schritt, und er fiel zurück. Eliza wirbelte herum. De Gex schaute zur Decke auf. Das war verständlich, denn die de Lavardacs hatten sie von Le Brun höchstpersönlich bemalen lassen, und er war erst kürzlich fertig geworden. Es handelte sich um ein kolossales Tableau, auf dem Apollo (der stets für Ludwig XIV. stand) in der hellen Bildmitte die Tugenden um sich versammelte, während er die Laster in die dunklen Ecken verwies. Die Tugenden waren nicht zahlreich genug, um den Raum zu füllen, weshalb auch noch die Musen da waren, die über die Großartigkeit der Tugenden Lieder sangen, Gedichte verfassten etc. An den Rändern des Stückes fanden sich diverse irdische Menschlein (Höflinge auf einer Seite, Bauern auf der nächsten, dann Soldaten, dann Geistliche), welche den Tugend verherrlichenden Werken der Musen andächtig lauschten bzw. sie verzückt betrachteten, während sie all den in die Ecken gedrängten Lastern im Allgemeinen den Rücken zukehrten oder sie mit verächtlichen Blicken maßen. Um das Ganze etwas prickelnder zu gestalten, sah man allerdings, wenn man nur genau genug hinschaute, einen Soldaten, der sich der Feigheit, einen Priester, der sich der Völlerei, einen Höfling, der sich der Wollust, und einen Bauern, der sich der Trägheit hingab.
Deshalb betrachtete jeder , der hier hereinkam, die Decke; doch der Gesichtsausdruck von de Gex war höchst eigenartig. Anstatt von der Pracht des Werkes geblendet zu sein, machte er eher den Eindruck, als rechnete er damit, dass die Decke über ihnen einstürzen würde.
Schließlich richtete er seine dunklen Augen auf Eliza. »Wisst Ihr, was hier passiert ist, Mademoiselle?«
»Eine sündhaft teure Renovierung, die ewig dauerte und gerade erst fertig geworden ist.«
»Aber wisst Ihr auch, warum?«
»Le Brun ist ständig in Versailles beschäftigt, außer wenn le Roi die
Bauarbeiten unterbricht, damit er einen Krieg führen kann. Und deshalb sind hier erst Forschritte gemacht worden, als der Krieg ausbrach.«
»Nein. Ich meinte, wisst Ihr, warum man renoviert hat?«
»So, wie das Ganze aussieht, würde ich sagen, es war die de Maintenon.«
»Die de Maintenon ?!« De Gex’ Reaktion verriet Eliza, dass ihre Antwort gar nicht falscher hätte sein können.
»Ja«, sagte sie, »sie ist 1685 hervorgetreten, nicht wahr? Also in dem Jahr, in dem die Renovierung hier in Angriff genommen wurde... und das Thema des Bildes ist ganz eindeutig maintenonesk.«
»Korrelation bedeutet nicht Kausalität«, sagte de Gex. »Man musste renovieren, und zwar wegen eines katastrophalen Zwischenfalls, der sich in jenem Jahr ereignete.«
Und dann schien de Gex wieder einzufallen, dass sie es eilig hatten, und er strebte erneut der Bibliothek zu. Eliza rauschte neben und ein Stück hinter ihm dahin.
»Wisst Ihr eigentlich, was hier geschehen ist?«, fuhr er fort und warf ihr über die Schulter einen Blick zu.
»Irgendetwas ungeheuer Peinliches – so peinlich, dass niemand mir erzählen will, was es war.«
»Ah. Dann also zur Bibliothek.« Sie verließen den Ballsaal und betraten eine Galerie.
»Wie war das, was Ihr vorhin sagtet? Ihr wärt gebeten worden, kurzfristig eine Trauung vorzunehmen?«
»Ich erhielt eine Mitteilung dieses Sinnes. Ich vermute, sie stammte von Eurem Beau. Sei’s drum; offensichtlich hat er sich etwas vorgemacht.«
»Ein wenig traurig ist es schon«, sagte Eliza bei der Erinnerung an die sorgfältig aufgestellten Stühle, auf denen nun niemand sitzen, und die kostbaren Blumen, die nun niemand sehen und riechen würde, ehe sie auf irgendeinem Misthaufen landeten. »Vielleicht hatte er vor, mit mir durchzubrennen – doch weil er so höflich ist, wollte er die Sache so gestalten, dass sie die Billigung von Familie und Kirche findet.«
»Das geht nur Euch und ihn an«, sagte de Gex ein wenig kalt und hielt Eliza die Bibliothekstür auf. »Nach Euch, Mademoiselle.«
»Ich dachte, Ihr fändet das vielleicht in mehr als einer Hinsicht interessant«, sagte Bonaventure Rossignol. Er saß mit dem Rücken zum Bogenfenster der Bibliothek, das, wiewohl dunkel, einen Blick auf den von Fackeln erleuchteten Hof des Hôtel Arcachon bot. Zu ihrem Entsetzen sah Eliza vereinzelte Schneeflocken herabrieseln – so rau und erbarmungslos war dieser Winter, dass sie ebenso gut in Stockholm hätten leben können.
Vor Rossignol stand ein ausladender Tisch, auf dem
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