Confusion
Bücher. In Alexandria wurden die vielen Bücher zur ersten Bibliothek zusammengetragen. In jüngere Zeit fällt die Erfindung Gutenbergs: ein Füllhorn, das Bücher in spezialisierte Märkte in Frankfurt und Leipzig ergießt. Die Kaufleute dort haben sich meinen Vorschlägen völlig verschlossen! Es gibt inzwischen zu viele Bücher auf der Welt, als dass ein einziger Verstand sie zu fassen vermöchte. Was tut der Mensch, Fatio, wenn er sich einer Aufgabe gegenübersieht, welche die physischen Grenzen seines Körpers übersteigt?«
»Er spannt Tiere ein, oder er fertigt ein Werkzeug. Und Tiere sind in einer Bibliothek von keinerlei Nutzen. Also...«
»Also brauchen wir Werkzeuge. Seht her!«, verkündete Leibniz und nahm die Hände gerade lange genug aus seinen Rocktaschen, um mit einer Art schaufelnder Gebärde auf das vor ihnen aufragende Gebäude
zu deuten. »Gewiss erkennt Ihr, dass dies noch bis vor kurzem ein Stall 12 war. Ich räume ein, dass es ein bescheidener Anfang für eine Bibliothek ist, und Ihr werdet bei der Royal Society und in jedem Salon zu Versailles brüllendes Gelächter hervorrufen, wenn Ihr sie dort beschreibt...«
»Weit gefehlt, Doktor! Wenn ich Euch adieu sage, werde ich mich geradewegs nach Den Haag zurückbegeben und meine Studien bei Mr. Huygens wieder aufnehmen. Es wird ein Jahr oder noch länger dauern, ehe ich vor der Royal Society zu irgendeinem Thema spreche. Wrens Bibliothek ist aus Mangel an Mitteln unvollendet.«
»Na schön«, murmelte Leibniz und ging Fatio durch eine behelfsmäßige Tür aus rohen Brettern in den Stall voran. Das Gebäude war nicht geheizt, doch immerhin waren ihre Gesichter nicht mehr dem Wind und ihre Füße nicht mehr dem Schnee ausgesetzt. Fundament und Erdgeschosswände bestanden aus großen Blöcken unbehauenen Steins. Alles, was darüber war, bestand aus Holz. Bis jetzt war das Baugerüst substanzieller als das eigentliche Bauwerk, dessen Umrisse lediglich an ein paar Pfosten und Balken erkennbar waren. Fatio war verblüfft und richtete seine großen Augen bald auf die diversen Tische, die mitten im Erdgeschoss aufgestellt waren.
»Eines Tages werden wir diese groben Arbeitstische hinausschaffen und sie durch polierte Schreibtische ersetzen, an denen Gelehrte ihrer Arbeit nachgehen werden, beleuchtet von Himmelslicht, das durch eine hohe, helle Kuppel in der Decke fällt«, sagte Leibniz, legte den Kopf zurück, sodass seine Perücke verrutschte, und stieß seinen Zeigefinger nach oben durch die Dampfwolke, die seine Worte umschleierte.
»Die Kuppel ist eine schöne Neuerung, Doktor. Genügend Licht zu bekommen ist in Bibliotheken stets ein Problem. Manchmal bin ich versucht, eine Buchseite anzuzünden, um Licht auf die nächste zu werfen.«
»Es ist nur ein Beispiel für das zugrundeliegende Prinzip.«
»Welches Prinzip?«
»Ich habe Euch doch gesagt, ich versuche, ein Werkzeug zu bauen,
eine Maschine.« Leibniz stieß zusammen mit einem Seufzer eine große Dampfwolke aus.
Auf den Tischplatten waren diverse Zeugnisse von Arbeitsfleiß zu sehen. Jedes war sein eigenes, eisiges Stillleben. Etwa die Hälfte hatten mit dem Bibliotheksbau zu tun (mit Steinen und Holzstücken beschwerte Zeichnungen, zerzauste, aus gefrorenen Tintenfässern ragende Federkiele, halbfertige Stürze, mit Zwingen fixierte Balken, umgeben von kniehohen Haufen von Hobelspänen), die andere Hälfte mit dem, wofür sich der Doktor gerade interessierte. Fatio blieb an einem Tisch stehen, der, wie es schien, mit Steinen übersät war, doch ihm entging nicht, dass jeder Stein den Abdruck eines Blatt-, Insekten-, Fisch- oder Säugetierskeletts trug – einige davon völlig unvertraut.
»Was...«
»Ich habe die Dynamik vorläufig unterbrochen und versuche, ein anderes Buch – Proto-gaia – fertig zu schreiben, dessen Thema Ihr dem Titel entnehmen könnt. Aber wir wollen uns nicht in Abschweifungen ergehen«, sagte Leibniz, der vorsichtig durch den vollgestopften Raum schlurfte. Er blieb stehen, um ein gewaltiges Möbelstück zu betrachten. »Wie Ihr seht, bin ich nicht der Erste, der sich mit der Herstellung einer Wissensmaschine beschäftigt.«
Fatio schloss die Augen, denn nur so konnte er sich von den sonderbaren Skeletten losreißen, trat zurück und manövrierte sich dann zu Leibniz hinüber.
»Seht, das Bücherrad!«, sagte Leibniz.
Aufrecht stehend, war das Bücherrad sechseckig und fast so groß wie Fatio. Als er um es herum zur Vorderseite ging, sah er, das es im
Weitere Kostenlose Bücher