Confusion
zufriedenes »Aaah« von sich.
Rossignol hatte den Säugling bereits vergessen. Die Anzahl der Bündel hatte sich auf zwei verringert. Aber er war so wohlerzogen, dem Päckchen auf dem Wandtisch keine unziemliche Aufmerksamkeit zu schenken, obwohl er wusste, dass es gestohlene Diplomatenpost enthielt. Seine ganze Aufmerksamkeit galt vorderhand Eliza.
Eliza war es gewohnt, angesehen zu werden, und es machte ihr nichts aus. Doch nun war sie eine Zeit lang mit etwas anderem beschäftigt. Rossignol brachte dem Kind keinerlei Gefühle entgegen. Er
hatte nicht die leiseste Absicht, ihm ein Vater zu sein. Das überraschte sie nicht sonderlich. Wenn überhaupt, war es so einfacher und leichter. Er begehrte sie wegen dem, was am oberen und unteren Ende ihrer Wirbelsäule lag – welches Ende er bevorzugte, war nicht ganz klar -, nicht wegen ihrer Geistesgaben. Und schon gar nicht wegen ihres Nachwuchses.
König Ludwig XIV. von Frankreich hatte es für angebracht gehalten, Eliza zur Gräfin zu machen. Neben anderen Privilegien hatte ihr dies Zugang zum Salon der Diana im königlichen Château zu Versailles verschafft. Dort war ihr aufgefallen, wie dieser gelangweilte, einsame Mann sie musterte. Sie hatte sich ganz genauso gelangweilt. Wie sich heraussstellte, hatten sie sich aus demselben Grund gelangweilt: Beide kannten sie die Gewinnchancen bei diesen Spielen und sahen wenig Sinn darin, dabei Geld einzusetzen. Doch über die Gewinnchancen zu sprechen, über Methoden zu spekulieren, wie man sie systematisch verbessern konnte, war fesselnd. Da es unklug oder zumindest unhöflich gewesen wäre, derlei Gespräche in der Nähe der Spieltische zu führen, waren Eliza und Rossignol in den Park geschlendert und von den Gewinnchancen beim Kartenspiel rasch zu anspruchsvolleren Themen wie Leibniz, Newton, Huygens und anderen Naturphilosophen übergegangen. Natürlich waren sie von Klatschmäulern bemerkt worden, die aus den Fenstern sahen; aber diese dummen Hofdamen, die Mode mit Geschmack verwechselten, hatten Rossignol nicht für begehrenswert gehalten, hatten nicht begriffen, dass er – obwohl von den Gelehrten Europas nicht als solches erkannt – ein Genie war.
Zugleich – das war ihr allerdings erst später aufgegangen – hatte er sie seinerseits noch schärfer beobachtet. Viele ihrer Briefe an Leibniz und dessen Antwortbriefe an sie waren über seinen Schreibtisch gegangen, denn er gehörte dem Cabinet Noir an, dessen Zweck darin bestand, ausländische Korrespondenz zu öffnen und zu lesen. Ihre Briefe waren ihm merkwürdig lang vorgekommen, angefüllt mit seichtem Geschwätz über Frisuren und den Schnitt der neuesten Mode. Sein eigentliches Ziel bei diesem Spaziergang mit ihr im Park von Versailles war gewesen festzustellen, ob sie tatsächlich so hohlköpfig war, wie sie in ihren Briefen wirkte. Die Antwort lautete eindeutig nein; außerdem hatte sich herausgestellt, dass sie eine Menge über Mathematik, Metaphysik und Naturphilosophie wusste. Dies hatte ausgereicht, ihn auf das Château seiner Familie in Juivisy zurückkehren zu
lassen, wo er den steganographischen Code geknackt hatte, den Eliza in ihrer Korrespondenz mit Leibniz benutzte. Damals hätte er sie vernichten oder ihr zumindest schaden können, aber er hatte kein Verlangen danach gehabt. Denn zwischen den beiden hatte so etwas wie eine Verführung stattgefunden, der freilich erst vor dreizehn Monaten Taten gefolgt waren.
Es hätte die Dinge sehr vereinfacht, wenn er sich in den Säugling verliebt und vorgeschlagen hätte, mit ihr und ihm in ein anderes Land durchzubrennen. Das aber war, wie sie mittlerweile deutlich erkannte, aus so vielen verschiedenen Gründen undenkbar, dass weiterhin davon zu träumen reine Zeitverschwendung gewesen wäre. Je nun (dachte sie), wenn die Welt nur von Menschen bevölkert wäre, die einander mit gleicher Inbrunst liebten und begehrten, wäre sie vielleicht ein glücklicherer Ort, aber dafür nicht so interessant. Und für einen Menschen wie Eliza gäbe es in einer solchen Welt keinen Platz. In den Wochen in Dünkirchen hatte sie ihre Fähigkeiten, sich mit dem zu behelfen, was Fortuna ihr zukommen ließ, vervollkommnet. Wenn es keinen in sein Kind vernarrten Vater gab, dann war es eben so. Nicole war eine ehemalige Hure, angeworben in einem der Hafenbordelle von Dünkirchen. Doch sie hatte dem Kleinen schon mehr Liebe geschenkt, als er in einem ganzen Leben mit Bonaventure Rossignol bekäme.
» Jetzt taucht Ihr auf!«,
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