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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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mit Buchstaben, sondern mit Abbildungen von Kurven gefüllt waren. Diese hatte er in Zeiten großer Langeweile durchgeblättert, denn er konnte zwar nicht lesen, aber seltsame Kurven konnte er sich genauso gut anschauen wie jeder andere. Eliza hatte neben ihm gesessen und ihm die dazugehörigen Namen gesagt: die Schnecke von Pascal, die Kampyle des Eudoxus, die Konchoide von de Sluze, die Quadratix des Hippias, die Epitrochoide, die Traktrix und die Cassini-Ovale. Zu Beginn ihres Vortrags hatte Jack sich gefragt, woher Geometer den Erfindungsreichtum nahmen, um so viele Arten und Familien von Kurven zu produzieren. Später hatte er begriffen, dass es unendlich viele Kurven gab und das wahrhaft Erstaunliche darin bestand, dass Dichter oder Schriftsteller, oder wer immer für die Erschaffung neuer Wörter zuständig war, mit diesen hektischen Geometern Schritt zu halten und sich für all die Kringel und Knoten in den Geometriebüchern des Doktors Namen auszudenken vermochten. Jetzt wurde ihm allerdings klar, dass Geometer und Wörtermacher gleichermaßen nichts als unbedeutende und längst überholte Auswüchse der asiatischen Waffenindustrie waren. In ganz Hindustan war keine gerade Klinge zu finden. Manche Waffen hatten Griffe an einem Ende und waren an einer anderen Stelle geschärft; die konnte man wohl als Schwerter bezeichnen. Andere bestanden hauptsächlich aus einem Stiel mit einem gefährlichen spitzen oder scharfen Teil an einem Ende; das waren für Jack Äxte oder Speere, je nachdem, ob sie aussahen, als müsste man sie schwingen oder stoßen. Wieder andere hatten Schnüre und schienen zum Abschießen von Pfeilen geeignet. Die betrachtete Jack als Bogen. Von den schwertartigen Waffen waren jedoch manche rund gebogen wie Haken; manche krümmten sich erst in eine Richtung, besannen sich dann eines Besseren und schwenkten in die andere um; bei manchen waren die beiden Klingen unterschiedlich gebogen, sodass sie an manchen Stellen so breit wie Schaufeln wurden; manche wanden sich wie Schlangen hin und her;
manche gabelten sich oder ließen Haken, Schnäbel, Stacheln, Lappen, Forken, ja sogar Spiralen herausstehen. Es gab Schwerter in Form von Federn, Hufeisen, Ziegenhörnern, Flussmündungen, Penissen, Angelhaken, Augenbrauen, Haarkämmen, Tierkreiszeichen, Halbmonden, Ulmenblättern, Gabeln, orientalischen Pantoffeln, Bäckerschaufeln, Pelikanschnäbeln, Hundebeinen und korinthischen Säulen. Dabei waren die wirklich absonderlichen Apparate noch nicht berücksichtigt, die dadurch entstanden zu sein schienen, dass zwei oder mehr solcher Waffen aufeinandergelegt, erhitzt und gehämmert wurden. Bei den langstieligen Schwungwaffen (Äxten, Keulen, Hämmern, Hellebarden und zu Waffen umfunktionierten landwirtschaftlichen Geräten wie Kampfsicheln, Streitflegeln, Sturmschaufeln und taktischen Krummbeilen) herrschte eine ähnliche Vielfalt. Für Jack äußerst beunruhigend waren die Bogen, die hier aus irgendeinem Grund nicht aus dem guten alten englischen Eibenholz, sondern aus den Beinen von Riesenspinnen gemacht zu sein schienen; es waren schwarze, sehnige, glänzende, spindeldürre Dinger, die sich in alle Richtungen bogen und manchmal an einem Ende länger waren als am anderen, so dass Jack nicht einmal sagen konnte, was oben und was unten beziehungsweise welcher Teil der Griff war oder welche Seite dem Feind zugewandt sein sollte. Er wusste, dass es für jeden dieser Waffentypen eine sechstausend Jahre alte Kampfkunst mit ihren jeweils eigenen Ritualen, Begriffen, Übungen und Geheimnissen gab, die man nur durch lebenslanges mühevolles Lernen zu beherrschen vermochte.
    »Du wirst mir bestimmt jetzt sagen, dass das alles im Vergleich zu den Waffen unserer Gegner noch ziemlich normal ist«, murmelte Jack.
    »Ehrlich gesagt bist du so verdrießlich geworden, dass ich mir das ebenso wie alle anderen möglichen Gesprächsthemen in den letzten paar Stunden verkniffen habe«, sagte Surendranath.
    Der Banyan saß in seinem Palankin. Jack ritt auf einem Pferd. Das trug zur Erklärung seiner Verdrießlichkeit bei, denn Ersterer ruhte im Schatten eines Dachs, während Letzterer nur durch einen Turban geschützt war.
    »Das hier muss fürwahr das Königreich von Gordy höchstpersönlich sein«, sagte Jack.
    »Wer oder was ist Gordy?«
    »Ein Kerl, der einmal einen Knoten so verworren schnürte, dass man ihn nur noch lösen konnte, indem man ihn entzweischlug. Unter Ferangs ist diese Geschichte sprichwörtlich. Und genau

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