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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Minerva gingen an dem Landungssteg alle von Bord. Enoch wurde zu einer Art Lagerhaus am Strand eskortiert.
    Eine halbe Stunde später kam der Alchimist aus eigener Kraft wieder heraus und bestieg das Boot. Unverzüglich legte es ab und steuerte auf die Minerva zu. Gleichzeitig schwärmten auf dem Kahn viele Bootsleute aus, lösten seine Festmacherleinen und begannen, sich mit
Riemen und Stocherstangen ins Zeug zu legen, um ihn vom Ufer wegzubewegen.
    Enoch Root stieg wie ein junger Mann die Lotsenleiter hinauf, machte aber, als sein Gesicht über der Reling auftauchte, eine ernste Miene. Zu van Hoek sagte er: »Ich habe alle Prüfungen durchgeführt, die ich kenne. Mehr als die Münzwardeine in Neuspanien vermutlich durchführen. Ich versichere Euch hiermit, dass das Material ebenso rein ist wie alles, was aus Minen in Europa kommt.« Zu Jack sagte er nur eins: »Das ist ein sehr seltsames Land.«
    »Wie seltsam?«, fragte Jack.
    Enoch schüttelte den Kopf und antwortete: »Seltsam genug, um mir klarzumachen, wie seltsam die Christenheit ist.« Dann zog er sich in seine Kajüte zurück.
    Matrosen von der Minerva zogen seine Sachen an Seilen hoch: erst seinen schwarzen Kasten mit der alchimistischen Ausstattung und danach eine teilweise noch in buntes Papier gewickelte Schachtel. Dappa fing sie auf, als sie über die Reling geschwenkt wurde, und stellte sie auf einem Tisch ab, den sie aus van Hoeks Offiziersmesse heraufgebracht hatten. In der Schachtel lag, in zerknülltes Papier eingebettet, ein Ei aus gebranntem Ton: ein Fläschchen, das an einem Ende mit einem kleinen Holzpfropfen zugestöpselt war. Darüber hatte man Wachs geträufelt, aber Enoch Root hatte das Siegel bereits erbrochen, um seine Prüfungen vornehmen zu können. Dappa fuhr mit den Händen in das Nest aus Papier, legte sie um das Ei und hob es heraus in das kalte blaue Sonnenlicht. Van Hoek zog seinen Dolch und lockerte mit dessen Spitze den hölzernen Stöpsel. Nachdem er ihn herausgezogen hatte, neigte Dappa das Fläschchen. Die Flüssigkeit darin schwappte mit solchem Schwung umher, dass es ihn fast von den Füßen gerissen hätte. Ein Tröpfchen flüssiges Silber sprang heraus in die Sonne und nahm an Geschwindigkeit zu, bis es mit der Wucht eines Hammers auf dem Tisch aufschlug. Dann zerbarst es in zahllose schimmernde Kugeln, die über den Tisch rollten, wie ein Wasserfall über seinen Rand fielen und sich überall auf dem Deck der Minerva verteilten. Das Quecksilber bewegte sich abwärts, suchte sich Ritzen zwischen den Planken, spritzte hinunter aufs Geschützdeck und bildete einen silbernen Regen zwischen den Männern, die angespannt neben ihren Kanonen standen. Erst ging ein Gemurmel durch das Schiff, dann ein Schauer der Erregung. Jedem an Bord kam es so vor, als wäre die Minerva ein zweites Mal getauft worden, diesmal mit
Quecksilber statt Champagner, und sei jetzt einer neuen Mission und Aufgabe geweiht.
    Bis der Kahn längs der Minerva lag und der Austausch der Fracht beginnen konnte, war es zwölf Uhr mittags. Das war eine aufwändige Art des Warenumschlags, aber die japanischen Beamten wollten auf keinen Fall zulassen, dass die Minerva sich dem Ufer näherte. Mit größeren Frachtstücken wäre es nahezu unmöglich gewesen. Aber die Minerva war mit Wootz , Seide und Pfeffer beladen, und der Kahn hatte nichts als Quecksilberfläschchen und Strohballen zu deren Verpackung an Bord. Jede dieser Waren konnte von Hand zu Hand weitergegeben oder -geworfen werden, und nachdem sie sich erst einmal aufeinander eingespielt hatten, verlief der Umschlag in einer unglaublichen Geschwindigkeit – hundert schwitzende und keuchende Männer konnten innerhalb einer Minute tonnenweise Fracht umladen. Stahl, Gewürze und Seide strömten aus dem Laderaum der Minerva und wurden durch Quecksilber ersetzt. Der hinausgehende und der hereinkommende Warenstrom berührten sich an einer Stelle auf dem Oberdeck, wo Monsieur Arlanc und Vrej Esphahnian, mit einem Stapel von Federkielen bewaffnet, einander am Tisch gegenübersaßen und der eine das Quecksilber, der andere die anderen Waren registrierte. Hin und wieder riefen sie einander Zahlen zu, nur um sicherzugehen, dass die Warenströme ausgeglichen waren, damit die Minerva nicht zu weit aus dem Wasser herauskam oder zu tief hineinsank.
    Als die Umladung etwa zu zwei Dritteln vollbracht war, tauchte Enoch Root auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er zwinkerte erst Jack, dann von Hoek zu und verschwand

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