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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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studierte er sein eigenes Spiegelbild, aber in Wirklichkeit starrte er Jack direkt in die Augen. »Ich glaube, heute Nacht werde ich auf ungesatteltem Pferd reiten«, verkündete er so laut, dass es durch das versilberte Glas drang.
    Eliza war ein wenig erstaunt. Aber das bezwang sie rasch und musste dann einen leichten Anflug von Ärger verbergen. Sie schrieb ihren Satz zu Ende, stellte ihren Federkiel in ein Tintenglas, stand auf und zog sich ihr Schlafgewand über den Kopf. Was Jack dann bei Kerzenlicht durch rund vierzig Jahre alte Augen und einen gefleckten, einseitig versilberten Spiegel betrachten konnte, war kein bisschen weniger schön als das, was er zuletzt vor siebzehn Jahren von ihr gesehen hatte. Er konnte erkennen, dass es einen harten Kampf mit den Blattern gegeben und dass Eliza ihn gewonnen hatte. Natürlich hatte sie ihn gewonnen!
    Ihr Mann kam zu ihr und ohrfeigte sie mit der Hand, sodass sie sich drehte und mit dem Gesicht nach unten aufs Bett fiel. Dann schlug er sie mit der Peitsche auf Hintern und Oberschenkel, wobei er hin und wieder aufblickte, um Jack durch den Spiegel süffisant anzugrinsen. Er befahl ihr, auf alle viere zu gehen, und sie gehorchte. Was dann folgte, war Gerammel mit weiteren Peitschenhieben dazwischen. Dabei kniete Étienne aufrecht hinter Eliza auf dem Bett, so dass er Jack fixieren konnte, bis er in den letzten Sekunden die Augen schloss.
    Nun hatte Jack in den Kerkern der Inquisition am eigenen Leib ein Phänomen erfahren, von dem Gefangene oft berichtet hatten, nämlich,
dass der Körper nach den ersten Foltererfahrungen abstumpfte und es einfach nicht mehr so wehtat. Vielleicht war hier dasselbe Phänomen am Werk. Es hatte wehgetan, Eliza nur zu sehen – ihr so nah zu sein. Ihren kleinen Lavardac-Jungen zu sehen, war vielleicht das Schlimmste gewesen. Die »Ritt-ohne-Sattel«-Szene, so schauerlich sie in gewisser Weise auch sein mochte, quälte Jack einfach nicht so, wie Étienne eindeutig annahm. Wäre Eliza von ihrem Schreibtisch aufgesprungen, um ihren Gatten abzuküssen, und hätte ihn dann stürmisch aufs Bett gezogen und sich ihm leidenschaftlich hingegeben, das hätte wehgetan. Stattdessen hatte sie achselzuckend ihren Federkiel im Tintenglas abgestellt. Noch bevor die Tinte des Satzes, den sie gerade schrieb, als Étienne den Raum betrat, getrocknet war, hatte er sich verausgabt, und sie hatte ihr Nachtgewand wieder übergestreift, und als sie zu ihrem Schreibtisch zurückging, stand in ihrem Gesicht zu lesen: Wo war ich stehengeblieben, als Herr Soundso mich unterbrach?
     
    Später wurde Jack weggebracht und wieder in seine Zelle gesperrt. Am nächsten Abend wiederholte sich das Ganze – fast, als hätte Ètienne im Grunde seines Herzens gewusst, dass es beim ersten Mal schiefgegangen war. Der Hauptunterschied bestand darin, dass Eliza diesmal, als Étienne in ihr Schlafgemach kam und ihr seine Absichten kundtat, ehrlich erstaunt war.
    Am dritten Abend war sie völlig perplex und stellte Étienne eine Reihe bohrender Fragen, die eindeutig darauf hinzielten, festzustellen, ob sich in seinem Kopf vielleicht ein Hirntumor entwickelte.
    Jack, der ein alter Theaterbesucher war, sah nun, wie es laufen würde. Étienne hatte ihm nämlich erklärt, dass sein Los darin bestehen würde, für den Rest seines Lebens hier in einer Zelle eingesperrt zu sein, und dass ein Mal im Jahr, wenn das Wetter aufklarte, Étienne mit Eliza hierhersegeln und diese Prozedur ein paar Mal wiederholen würde, bevor sie dann wieder zurückführen. Als Étienne ihm das sagte, war Jack natürlich geknebelt und konnte nicht antworten; was er aber dachte, war, dass dies in der Tat eine unerträgliche Folter war, allerdings aus völlig anderen Gründen als Étienne es sich vorstellte. Die Idee war großartig, zugegeben; aber der Weg zu dramaturgischem Ruin war mit großartigen Ideen gepflastert. Die Schwierigkeit lag darin, dass dieses Stück erbärmlich inszeniert und, mit einem Wort, verpfuscht war. Das machte das Anschauen fast noch schmerzvoller, als wenn es brillant dargeboten worden wäre. Wie es schien, sollte es
Jacks Schicksal sein, rund dreihundertsechzig Tage im Jahr in einem kalten Verlies zu schmachten und an den wenigen übrigen Tagen das unfreiwillige Publikum für ein schlechtes Schauspiel abzugeben. Er musste einräumen, dass es ein demütigendes Schicksal gewesen wäre, wenn er dem französischen Adel angehört hätte. Doch für einen Landstreicher, der bereits drei Mal so

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