Copyworld: Roman (German Edition)
Sender
zugänglich.”
Unwillkürlich tastet Hyazinth
nach der Knochenwulst hinter seiner Ohrmuschel.
“Aufgabe des Wächters ist es, der
Gesundheitswache kontinuierlich Angaben über den Zustand des Individuums zu
senden. Herzschlag, Atemfrequenz, alle möglichen Potentiale - und Geräusche.”
“Aha”, murmelt Hyazinth
beeindruckt und klopft mit dem Knöchel gegen seinen Hinterkopf, in der geheimen
Hoffnung, irgend etwas klappern oder klimpern zu hören.
“Hast du zugehört? Der Wächter
überträgt alle Geräusche!” wiederholt Holunder eindringlich.
Hyazinth jedoch beschäftigt etwas
ganz anderes.
“Warum weiß man nichts davon?”
fragt er erstaunt. Holunder atmet tief durch, und die Luft pfeift in seinen
Filterstopfen, daß es fast wie das mürrische Schniefen von Wölkchen klingt.
“Weil der Wächter alle Geräusche
überträgt”, sagt er ungeduldig und erklärt Hyazinth, was es damit auf sich hat.
“Oh! Das ist unangenehm!” ruft
Hyazinth erschrocken aus. “Dann hört man also auch in der Gesundheitswache,
wenn ich in meiner Wohnblase singe?”
Holunder schlägt sich verzweifelt
mit der Faust gegen die Stirn.
“Dort hören sie nicht nur deine
Stimme, sondern auch alles, was das Trommelfell an deinen trägen Verstand
weiterleitet, begreifst du nun? Ihr seid immer zu zweit, du und dein Wächter…”
“Nun verstehe ich, warum das der
Bevölkerung nicht auf die Nase gebunden wird”, Hyazinth nickt bedeutsam, “man
kann nicht bei jedem Menschen die erforderliche Stärke des Charakters
voraussetzen. Nicht jeder könnte es ertragen. Aber die Notwendigkeit sehe ich
ein, es ist zu unser aller Nutzen…” Und nach einer Weile nachdenklichen
Schweigens setzt er hinzu: “… aber hättest du es mir doch nur nicht gesagt!”
Hyazinth seufzt und wühlt mit dem Zeigefinger in den dunklen Locken hinter
seinem linken Ohr.
“Ja, hätte ich es dir bloß nicht
gesagt”, knurrt Holunder.
“Weshalb hast du die Wächter
eigentlich abgeschaltet? Ist das nicht verboten?”
Holunder blickt ihn merkwürdig
an, und einige Sekunden lang hat
Hyazinth das Gefühl, etwas besonders Dämliches gesagt zu haben, denn mit
demselben Ausdruck im Gesicht musterte ihn Opal Stein gelegentlich, wenn sich
sein Lieblingsschüler allzusehr in logische Ketten verwickelt und in
polemischen Netzwerken verstrickt hatte.
“Ich wollte dir etwas sagen,
vergiß es!” brummt Holunder ärgerlich. “Etwas, was nicht jeder hören muß.” Dann
fügt er geringschätzig grinsend hinzu: “Wegen des Verbotes mach dir keine
Sorgen. Wir haben ein Gegensystem entwickelt. Wenn ich einen Wächter abschalte,
merkt das keiner in der Gesundheitswache, darauf kannst du einen lassen!”
Eine Weile denkt Hyazinth
ergebnislos darüber nach, wen Holunder wohl mit wir gemeint und was es mit dem
Gegensystem auf sich haben könnte.
Dann sieht er Jade.
Es ist tatsächlich der Projektant Beryll
Stein, der seinen Arm um ihre Schultern gelegt hat und lächelnd auf sie
einredet. Ihre sonst so flinken, rastlosen Augen sind starr auf sein Gesicht
gerichtet, als wolle sie ihm die Worte von den Lippen ablesen.
Ein schmerzhafter Stich fährt
Hyazinth durch alle Gedanken. Es muß an den Wachsschuppen liegen! denkt er
bitter. An diesen scheußlichen Auswüchsen an den Gelenken, wo meine Haut
aussieht wie die eines Reptils. Das stößt sie ab. Wenn ich ihr sage, daß ich
trotzdem die Reinheitsweihe erhalte und Kinder zeugen darf – ob sie dann zu mir
zurückkehrt?
Ohne es zu merken, kratzt er mit
den Fingernägeln über die Haut auf dem
anderen Handrücken. Immer wieder und immer wieder. Erst als ihm der sanfte
Griff Rutilas Einhalt gebietet, wird ihm bewußt, daß er blutet.
“Daran liegt es nicht, Hyazinth”,
sagt sie. “Es gibt so viele Mädchen, die einen ganzen Tag lang über nichts
anderes reden würden, als über einen Blick von dir, ein nettes Wort. Glaube
mir.”
Hyazinth schaut ihr ins Gesicht,
und das erste Mal sieht er sich dessen Züge genauer an. Daß er dabei das Kinn
heben muß, stört ihn nicht besonders, denn Rutila ist nicht seine Partnerin.
Ihm flößt ihre Größe keine Minderwertigkeitsängste ein, ihr gegenüber bewegte
er sich bisher sogar deutlich freier und offener als vor anderen Frauen. Das
mochte damit zu tun haben, daß ihre kräftige Gestalt einen Eindruck von
Männlichkeit erweckte und damit einige der emotionalen Barrieren niedriger
erschienen, wie sie für gewöhnlich der Begegnung zwischen Mann und
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