Coq 11
zögern nach oben gezogen. Das redete er sich nicht nur ein, weil man hinterher immer klüger war. Vielmehr hätte er diese Situation, die mitten in einer russischen Flottenübung aufgetreten war, gar nicht als Krieg betrachtet. Außerdem wäre es auch im Krieg richtig gewesen, die Mannschaft zu retten.
Nein, es war zum Verrücktwerden, die Geschichte war und blieb ihm ein Rätsel.
Sein Leben befand sich in Auflösung. Dabei hatte er einst ganz anders dagestanden. Ein Jahr bevor die Kursk versenkt wurde, hatte er mit ihr die erfolgreichste Autonomka der jüngsten Geschichte durchgeführt. Sie waren ins Mittelmeer hinuntergefahren, hatten sich ohne Probleme durch die Straße von Gibraltar geschlichen und amerikanische Manöver aus der Nähe beobachtet. Erst nach Tagen waren sie an die Oberfläche gegangen und hatten ihre Flagge gehisst. Die Amerikaner hatten sich vermutlich in die Hosen geschissen. Die Kursk war getaucht, hatte die Verfolger abgeschüttelt und war erst nach einigen Tagen wieder aufgetaucht. Nach zwei Wochen brachen die Amerikaner die Übung ab und fuhren nach Hause. Die Kursk bekam eine Auszeichnung, die am Turm festgeschraubt wurde, und die gesamte Besatzung erhielt die neuen Orden und Medaillen der russischen Flotte, jeder nach seinem militärischen Rang. Er und seine Ersten Offiziere hatten den Stern der Flotte bekommen. Das waren noch Zeiten gewesen.
Nun hockte er einsam und verlassen in Widjajewo und war zum zweiten Mal vorübergehend kaltgestellt worden. Aus dem gleichen Grund wie beim ersten Mal. Zunächst waren alle Admiräle entlassen, worden, die dem Märchen dieses Grünschnabels von Präsidenten widersprochen hatten, auf der Kursk sei ein altertümlicher Torpedo von selbst explodiert. Sogar der damalige Verteidigungsminister hatte den Laufpass bekommen.
Dass er dann als einer der beiden Kommandanten der Kursk mit einer Verwarnung davongekommen war, hatte vermutlich auf seinen Verdiensten, seiner emotionalen Bindung an die Kursk und schlichtweg darauf beruht, dass man nicht jeden Marineoffizier entlassen konnte, der nicht an das Märchen vom altersschwachen Torpedo glaubte. Denn sonst hätte man alle entlassen müssen.
Wahrscheinlich hatte er auch die zweite unfreiwillige Beurlaubung einem übereifrigen kleinen Arschloch zu verdanken, das ihn verpetzt hatte, weil er sich des Öfteren »unangemessen« über das Kursk-Unglück geäußert hatte. Oder wie die da oben im Marinestab das ausdrücken mochten. So etwas bekamen die richtigen Seeleute gar nicht mit.
Widjajewo war bestimmt das hässlichste Kaff in der Sowjetunion. Er hatte in seinem Leben einige Käffer gesehen und stammte selbst aus einem. Nicht einmal für frisch Verliebte, und nicht einmal jetzt im Mai, wo der teuflische Winter überstanden und die Mitternachtssonne zurückgekehrt war, hätte sich ein Spaziergang gelohnt. Fünfstöckige Häuser aus rissigem Beton, so streng abgezirkelt wie auf einem Militärfriedhof. Und jeder kannte jeden. Keine Hotels, geschweige denn Restaurants. Es gab das Haus des Volkes und den Kriegsmarinehafen und damit basta. Ringsum rostige Zäune. Kein Baum und kein Strauch, höchstens jämmerliche Rasenflächen auf den Hinterhöfen. Es war schlimm genug, hier mit seiner Familie zu leben. War man allein und hatte als einziges Vergnügen die Wodkaflasche, war es die reinste Hölle.
Zu Lebzeiten von Jekaterina war ihm nie klar gewesen, wie viel eine warme Mahlzeit wert war. Das Essen hatte wie selbstverständlich auf dem Tisch gestanden. Ein kräftiges Frühstück mit Speck, der in der Pfanne brutzelte, Schwarzbrot dick mit Butter und Tee. Ihr Borschtsch und ihre Beefsteaks oder die selbst gesammelten Pilze mit Sauce und Kartoffelbrei.
Er hatte versucht, ihren Borschtsch nachzukochen, nachdem er es leid war, sich nur von Pökelfleisch und Würsten zu ernähren. Er kriegte es einfach nicht hin, obwohl er das Manöver theoretisch beherrschte. Für die Brühe ließ man billiges Fleisch und Markknochen vier Stunden lang kochen. Dann hackte man Zwiebeln und raspelte Karotten und Rote Bete. So weit, so gut. Leider hatte er dann den vermaledeiten Essig vergessen, seine Suppe war viel zu süß und seine Kartoffeln feuerrot geworden.
Wodka, Pökelfleisch, Wurst und Sportsendungen waren sein Leben in Widjajewo, wenn man von seinen peinlichen Annäherungsversuchen an Maria absah, die zu allem Übel die Witwe seines besten Freundes war. Er hatte entsetzliche Erinnerungen an den Abend, an dem er besoffen zu
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