Crescendo
sie schließlich nicht einfach ohne Er-klärung vor Dienstschluss verschwinden konnte; so kam er sich nicht ganz so albern vor.
Die Wohnung war zu heiß und die Luft zu stickig. Normalerweise hätte Nightingale die Fenster aufgelassen, aber aus Sicherheitsgründen hatte sie sie lieber geschlossen. Jetzt, wo sie zu Hause war, machte sie sie ganz weit auf, auch wenn das riskant war. Die Brise von draußen bewegte allmählich die schwüle Luft, während sie sich eine ausgebeulte, abgeschnittene Jeans und ein weißes Top anzog. Wie die Wohnungstür waren jetzt auch die Fenster mit einem Riegelschloss versehen. Die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen hatten gefruch-tet, denn ihre Wohnung war nach wie vor unangetastet.
Sie hatte keinen Appetit und wollte sich nicht zum Essen zwingen. In ihr war etwas Selbstzerstörerisches am Werk, an dem sie festhielt wie eine verstörte Jugendliche. Sie goss sich ein großes Glas gekühlten Sauvignon ein und knabberte an einer Brotstange, während sie ihren Anrufbeantworter abhörte.
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Nur vier Anrufe, aber jedes Mal war einfach aufgelegt worden. Sie zuckte die Achseln und löschte die Anrufe, zog den Telefonstecker aus der Dose und schaltete ihr Handy aus.
Sie hatte fest vorgehabt, jemandem im Präsidium von den Anrufen und E-Mails zu erzählen, aber dann war sie in Quinlans Büro zitiert worden und hatte sich anschließend in tiefes Selbstmitleid fallen lassen.
Der Computer meldete eine neue Mail von der Server-ID, die sie inzwischen fürchtete. Sie drückte die Eingabe-Taste und wartete, was passierte. Ein schwarzer Kasten mit weißer Schrift erschien mitten auf dem Bildschirm: Warnung: nicht jugendfreies Foto. Sie trank rasch noch einen Schluck Wein und ballte die Hände unbewusst zu Fäusten.
Es dauerte lange, bis sich das Bild zusammensetzte. Ab-strakte Farbblöcke blitzten auf und formierten sich allmählich zu einem erkennbaren Ganzen. Sie schnappte nach Luft, als sie ein echt wirkendes Tatortfoto erkannte. Der nackte Körper einer Frau lag verdreht da, die Füße am oberen Bild-schirmrand, den linken Arm über den nackten Unterleib gelegt. Irgendwie wirkte die Hand beunruhigend vertraut.
Weiße Lücken füllten den Rest des Fotos aus.
Der Oberkörper erschien in einer plötzlichen Anhäufung von Farben, bedeckt mit Blutergüssen und Schnittverletzun-gen, dann der tote Kopf mit einer entsetzlichen Wunde an der Gurgel. Nightingale brauchte volle dreißig Sekunden, bis sie merkte, was da nicht stimmte. Das war keine anonyme Horrormaske, von der sie angestarrt wurde. Es war ihr eigenes Gesicht.
Es war ihr Haar, das mit geronnenem Blut verklebt war, ihre Augen, die blicklos in die Kamera starrten, ihr Hals, der gewürgt und dann aufgeschlitzt worden war.
Der Geschmack von bitterem Wein stieg ihr in die Kehle, 153
und sie hätte sich fast übergeben müssen. Wer immer der Absender war, er hatte sich große Mühe gegeben, sein Opfer herzurichten. Es war ein akribisches und präzises Werk. Sie sah sich noch einmal die Hand an, die über dem nackten Bauch lag. Kein Wunder, dass sie ihr bekannt vorgekommen war – es war ihre Hand. Ihr Siegelring zierte den kleinen Finger.
Nightingale schloss die Augen und spürte, wie ihr auf der Stirn und im Nacken der Schweiß ausbrach. Er rann ihr den Rücken hinunter. Wer konnte sie so sehr hassen?
In der Küche trank sie ein Glas Leitungswasser, was ihren Magen wieder ein wenig beruhigte. Nach dem Schock spürte sie jetzt eher Wut als Angst. Der Gedanke, dass der Stalker sich stundenlang damit beschäftigt hatte, dieses Foto zu kreie-ren, war zwar zutiefst verstörend, aber sie war nicht gewillt, sich dadurch zum Opfer machen zu lassen. Jetzt hatte sie keine andere Wahl, als den Albtraum zu melden, mit dem sie seit einiger Zeit lebte, und die Folgen hinzunehmen. Gleich am nächsten Morgen würde sie ihren PC mit aufs Präsidium nehmen.
Um vier Uhr nahm sie Tabletten gegen die hämmernden Kopfschmerzen. Blackie ließ sich nicht blicken, aber das war nicht verwunderlich. Er war ein unabhängiges Tier und tauchte selten auf, wenn er keinen Hunger hatte. Sie öffnete eine Packung Räucherlachs und teilte den Inhalt zwischen einem Sandwich und Blackies Schüssel auf, wobei der Kater etwas mehr abbekam als sie selbst.
Als sie gerade ihr Sandwich gegessen hatte, klingelte es an der Tür, und sie erstarrte instinktiv. Sie blickte durch den Spion, konnte aber im Flur und auf der Treppe niemanden sehen. Als sie die Wohnungstür öffnete,
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