Cupido #1
und fünfzig Schwerverbrechen.
Der schlecht gelaunte Richter verlas das Verhaftungsprotokoll und den Tatvorwurf, erklärte, dass hinreichender Tatverdacht bestand, legte eine Kaution fest oder lehnte diese ab und ging dann zum nächsten Beklagten in der langen Schlange über, die sich durch das Gefängnis wand. Und das war's. Es war so schnell vorüber, dass der Beschuldigte meistens nicht einmal merkte, dass sein Name aufgerufen worden war. Er wartete auf der Gefängnistribüne, starrte mit leerem Blick vor sich, bis man ihn herunterholte und in die andere Schlange stellte, die darauf wartete, zurück in die Zellen gebracht zu werden. Staatsanwalt und Verteidiger saßen zwar beim Richter im Gerichtssaal, doch sie waren reine Staffage. Es gab keine Zeugen, keine Aussagen, nichts weiter, nur den Richter, der das Ver haftungsprotokoll verlas. Und er fand immer einen hinreichenden Tatverdacht. Ohne Ausnahme. So war es nun einmal – das gute Rechtssystem des alten Südens.
Aber bei diesem Fall – bei diesem Fall würde alles ganz anders sein. Heute wurde der Beschuldigte sogar vom Gefängnis über die Straße in das Gerichtsgebäude eskortiert, wo er zu einem eigenen Termin in einem eigenen Gerichtssaal eine erste förmliche Anhörung ganz für sich allein bekam. Nur er, sein Verteidiger, die Staatsanwältin, der heute nicht ganz so schlecht gelaunte Richter – und das gesamte Presse–Corps, das über Nacht auf der Treppe des Gerichtsgebäudes kampiert hatte, um einen Sitzplatz im Saal zu ergattern. Eine nette, trauliche Angelegenheit, die zeitgleich von Millionen von Zuschauern vor dem Fernseher im ganzen Land und auf der ganzen Welt verfolgt werden würde. Und dann noch einmal in den Fünf–Uhr, den Acht–Uhr und den Elf–Uhr–Nachrichten.
C. J. hatte so eine Ahnung, dass es diesmal nicht in zwei Minuten erledigt sein würde.
Der Richter war der Ehrenwerte Irving J. Katz, ein echter Pressehund. Er war alt und schrullig und war vermutlich schon Richter gewesen, als es in Miami noch nicht einmal ein Gericht gegeben hatte. Zu Richter Katz' Missfallen ließ der Oberste Richter ihn keine Prozesse mehr führen, sondern hatte ihn stattdessen zum König der ersten Anhörungen gemacht, einem üblicherweise ereignislosen und nervtötenden Posten. Bei einem Fall wie diesem wurde es Richter Katz natürlich warm ums Herz. C. J. erwartete, dass er die ersten fünf Minuten der Anhörung einfach nur seinen schweigenden, fürchterlichen Blick der Verdammung auf Bantling richten würde. Und in die Kameras. Dann würde er vom Gerichtsdiener das Verhaftungsprotokoll verlangen und dazu übergehen, langsam den Tatvorwurf zu intonieren, wobei er jede Silbe vor Verachtung triefen ließe. Er würde so tun, als lese er das Verhaftungsprotokoll mit den Fakten über Bantlings Festnahme zum ersten Mal – natürlich hatte er das schon zehnmal in seinem Büro getan, aber jetzt würde seine ehrwürdige, runzlige Braue sich theatralisch vor Schock und Abscheu verziehen. Er würde fragen, was Bantling zum Tatvorwurf zu sagen habe, obwohl das bis zur Vernehmung zur Anklage in drei Wochen nichts zur Sache tat. Dann würde er seinen Auftritt mit einer kurzen dramatischen Rede abrunden: «Ich bete, dass diese hässlichen Anschuldigungen nicht zutreffen, dass diese barbarischen, bösen Taten nicht von Ihnen begangen wurden, William Rupert Bantling. Doch wenn Sie derartiger Verbrechen schuldig sind, dann möge Gott Gnade mit Ihrer Seele haben, denn dafür werden Sie in der Hölle schmoren!» Oder so etwas Ähnliches. Das wäre dann die Schlagzeile für das Extrablatt des Miami Herald: Richter: Cupido soll in der Hölle schmoren! Natürlich würde Katz hinreichenden Tatverdacht feststellen. Wahrscheinlich musste C.J. nicht einmal das Wort ergreifen. Trotzdem wollte sie gut vorbereitet sein für den Fall, dass sie von Bantlings Anwalt herausgefordert würde.
Der Richter, der gestern Abend den Durchsuchungsbefehl für den Wagen ausgestellt und später, um fünf Uhr morgens, im Bademantel die Durchsuchungsbefehle für Bantlings Haus und Zweitwagen unterschrieben hatte, war Richter Rodriguez. Im Moment nahmen mindestens vier Polizeitrupps jeden Quadratzentimeter von Bantlings Leben nach Strich und Faden auseinander. Doch bis zu ihrem letzten Rapport um acht Uhr hatten sie noch keine «rauchende Pistole» gefunden; kein Versteck mit entwendeten Menschenherzen, keine geheime Kammer, in der neben den Fotos der toten Opfer ein Zettel am Spiegel hing,
Weitere Kostenlose Bücher