Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
Freund. Ich wünschte, diesen Tipp hätte mir auch mal jemand rechtzeitig gegeben. Obwohl … wenn ich ehrlich bin, hätte ich mich nicht weiter darum geschert. Und du siehst mir auch ganz nach einem unbelehrbaren Schwachkopf aus.«
Mit diesen Worten blies Gabriel die Kerze aus. Dann erst gab er den Nachtfalter frei, der taumelnd seinen Weg ins Zwielicht antrat.
Gabriel ging auf den Flur hinaus, wobei sein Blick auf die geschlossene Tür der Kammer fiel, in der Ella nun in einem rostigen Bettgestell schlief. »Alles ist besser als eine Isomatte auf dem nackten Boden«, hatte sie erklärt. »Daran habe ich mich in all den Nächten nicht gewöhnt, und an die schmerzenden Knochen schon gar nicht. Meinetwegen kann das
Bettgestell quietschen, so viel es will, ich werde darin schlafen.«
Zu gern hätte Gabriel sich persönlich davon überzeugt, ob sie auch weich genug lag.
Allerdings hatte Ella nicht die leiseste Andeutung einer Einladung in ihr Bett gemacht. Er konnte an der Art, wie sie ihn ansah, mühelos erkennen, dass sie ihn anziehend fand.
Außerdem war ihm aufgefallen, dass sie sich in seiner Gegenwart wohlfühlte, seine Stimme und das, was er von sich gab, gut leiden mochte. Aber nicht mehr. Wenn er es darauf
anlegte, könnte er vermutlich eine Nacht mit ihr verbringen. Ella hätte zweifellos ihren Spaß daran, genau wie er. Nur verriet ihm sein Instinkt, dass sie am
nächsten Morgen
unverbindlich nett zu ihm wäre, als Beweis dafür, dass er ihr in Wirklichkeit keinen Schritt nähergekommen war. Und diese Vorstellung schmeckte ihm überhaupt nicht.
Ella war zwar einerseits offen und absolut bereit, jeden in ihre Arme zu schließen – aber bitte nicht mehr! Da zog sie eine Grenze, vermutlich wusste sie das nicht einmal selbst.
Obwohl er es sich nicht erklären konnte, wollte Gabriel diese Grenze unbedingt
überschreiten, und zwar seit er ihr das erste Mal gegenübergetreten war. Als hätte er da bereits gesehen, dass sie mehr war, als sie selbst zu sein glaubte. Dass sie gerade erst dabei war, ein verschlossenes Reich in ihrem Inneren zu entdecken. Und er verspürte den Drang, vor ihr dort zu sein. Ein Verlangen, das er unbedingt zügeln musste, sonst wusste er nicht, wie die Geschichte ausgehen würde.
Entschlossen wendete Gabriel sich von der Kammer ab, hinter der ein Quietschen verriet, dass Ella sich in diesem Moment umdrehte. Oder sich aufsetzt, weil sie aufgewacht war, dachte Gabriel. Denn ihr Traum verflüchtigte sich spürbar. Er blieb stehen, um zu lauschen und gegebenenfalls schnell auf sein Zimmer zu gehen, falls sie aufstehen sollte, doch es drang kein weiteres Geräusch aus der Kammer.
Wahrscheinlich belauern wir uns gegenseitig.
Bei diesem Gedanken musste er lächeln, dann schlich er weiter den Flur entlang.
Eigentlich hatte er den Blick durch die weit offen stehende Tür, die in sein anderes Zimmer führte, vermeiden wollen. Diese eine Nacht wollte er seinen Frieden, das stand ihm zu. Aber aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Reflexion, mehr Einbildung als Realität, und das reichte aus, dass er den Kopf drehte und in den Raum sah.
Der Rahmen stand im Schatten, obgleich das anbrechende Tageslicht schon durch das
Fenster fiel. So oder so – da war nichts, was einen Lichtstrahl hätte zurückwerfen können …
oder doch?
Gabriel hätte sich gern eingeredet, dass er aus freiem Willen das Zimmer betrat und sein eigener Herr war. Die Realität sah jedoch anders aus, und er war zu erschöpft, um sich selbst etwas vorzumachen. Die Freiheit, zu entscheiden, hatte er in dem Moment
abgegeben, in dem er das erste Mal vor diesen Spiegel getreten war, auch wenn ihm dieses Eingeständnis noch sehr zu schaffen machte.
Als Gabriel sich vor den Rahmen stellte, der ihn an Höhe nur einige Zentimeter überragte, überprüfte er noch einmal, ob Ellas Kammer weiterhin in Stille lag. Dann streckte er die Hand aus. Noch bevor er die ergraute Holzplatte berührte, die früher den Spiegel gehalten hatte, zeichnete sich ein Flecken aus Quecksilber ab, der rasch auseinanderlief, bis er den Rahmen vollständig ausfüllte.
Mit einer steilen Falte auf der Stirn betrachtete Gabriel sein Spiegelbild, das seinen Blick ungerührt erwiderte. Ein junger Mann mit Wasserspuren auf der Haut und tropfendem Haar.
Graue, fordernde Augen.
»Lass mich eintreten«, flüsterte Gabriel.
Die Lippen seines Spiegelbildes blieben unbewegt.
Nein, die Nacht neigte sich ihrem Ende zu, und mit ihr schwanden die Chancen, die
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