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Dann fressen ihn die Raben

Dann fressen ihn die Raben

Titel: Dann fressen ihn die Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Meinke
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treibst du da eigentlich?“, sagt er. „Warum kannst du dich nicht zusammenreißen? Sie trägt dein Kind in sich, Nick. Es ist dein eigen Fleisch und Blut. Deine Gene. Sie führt dich weiter. Sie braucht dich jetzt.“
    „Was treibst DU?“, frage ich. „Warum hast du uns verlassen?“
    Er hebt den Kopf. Quer über seinen Hals verläuft eine rote Narbe. Er zieht seine Ärmel hoch und offenbart zwei lange Nar-ben – eine längs auf jedem Innenarm über den Handgelenken.
    „Hast du dir das Leben genommen?“
    „Ja. Und was ist mir dir?“
    „Was meinst du?“
    „Was ist mit deinem Leben? Willst du dich nicht auch umbringen?“
    „Warum sollte ich?“
    „Warum fragst du mich das?“
    „Weil du der Schlauste von uns bist“, antworte ich. Die Konturen seines Gesichts zeichnen sich scharf unter dem Licht der Straßenlaterne ab. Er ist älter geworden. Sein Gesicht wirkt schmaler.
    „Vielleicht nimmst du dir das Leben, um deine Umgebung zu schonen. Dich kann doch niemand gebrauchen. Wer macht dich schon glücklich?“
    I ch öffne meinen Mund, um etwas zu erwidern. Doch mir fällt nichts ein.
    „Glaubst du etwa, du machst die Tiere glücklich?“, fragt er und lacht sein tiefes, lustiges Lachen, während er in den Rinnstein zeigt. Eine Katze. Da liegt eine Katze und faucht, als sie uns sieht. Ein Reifen hat den hinteren Teil ihres Körpers zerquetscht, und die Gedärme quellen aus ihr heraus.
    „Lauf, kleine Mieze“, sagt er.
    Ich gehe weiter. Würde ihn gern loswerden. Aber er hört nicht auf zu reden.
    „Du bist ein Schmarotzer, Nick. Von da aus betrachtet, von wo aus ich die Dinge sehe, bist du ein Schmarotzer. Du saugst die Leute bis auf den letzten Tropfen aus. Nachdem du sie besucht hast, liegen sie auf dem Boden und röcheln. Man kann ihnen nur wünschen, dass sie sich wieder erholen.“
    „Verpiss dich“, sage ich zu Jonathan.
    „Ich bin doch schon weg“, sagt er.
    „Aber du bist wieder zurückgekommen?“
    „Nur, um mit dir zu reden.“
    „Du glaubst wohl, du wärst der Messias“, brülle ich. Ein Mädchen auf einem Fahrrad schlägt schnell einen großen Bogen um uns.
    „Und du bist ein Judas“, entgegnet er.
    „Du glaubst, du wärst wichtiger als wir.“
    „Das war ich ja auch.“
    Ich bleibe stehen. Sehe in sein Gesicht.
    „Aber was soll ich machen?“
    „Tja, jetzt ist es wohl zu spät, um noch etwas ins Reine zu bringen. Vielleicht gelingt dir das mit Liv. Vielleicht sogar mit Mira. Aber Rie? Da musst du auf jeden Fall viele Male mit dem Kinderwagen den Tagensvej rauf- und runterschieben.“
    W ir gehen weiter. Jetzt sind wir bei der Metrostation Vibenshus Runddel angekommen.
    „Und dennoch. Was auch immer man tut, so hinterlässt man immer einen Keim, aus dem etwas wächst, oder …“ Er zeigt auf seinen Hals. „ … eine riesige Narbe.“ Er bleibt stehen. Dann dreht er sich um und verschwindet im Fælledpark.

Clearly, then, the city is not a concrete jungle, it is a human zoo.
    Desmond Morris
    Irgendwie habe ich mich am nächsten Tag doch in die Schule geschleppt. Dienstag. Noch sechs Tage bis zur Abgabe. René bedachte mich mit einem schneidenden Blick, den ich ignorierte. Am Montag sollte ich ein Projekt fertig haben, von dem ich noch keinen blassen Schimmer hatte. Mit Liv hatte ich nichts zu tun. Sie war da, aber sie behandelte mich wie Luft. Mateus machte einen nervösen Eindruck – als hätte Askes Paranoia schon auf ihn abgefärbt. Und dann kam in der ersten Pause Sandra auf mich zugestürmt.
    „Wo bist du gewesen?“, fragte ich sie, als wir einen freien Tisch in der Kantine gefunden hatten.
    „Daddy ist hier“, zwitscherte sie.
    „Was? Weiß Mama das?“
    „Nein. Er will sie nicht anrufen. Aber willst du nicht heute Nachmittag mit ins Foley’s ? Wir sind da um vier verabredet.“
    „Mann, Sandra. Das ist nicht richtig. Lass doch Mama einfach in Ruhe.“
    „Henrik soll nicht Teil unseres Lebens werden. Basta. Mama will das einfach nicht erkennen. Ich schon. Er ist ein Idiot, und eines Tages wird sie mir dankbar dafür sein.“
    „Nein, wird sie nicht.“
    „Du hast sein Haus abgefackelt, Alter. Was ist schlimmer?“ Für einen kurzen Moment verstand ich nicht, woher sie das eigentlich wissen konnte, aber na gut. Eigentlich hatte ich ihr gegenüber fast alles ausgeplaudert, bevor Mateus und ich die Sache durchzogen.
    „Das war auch nicht besonders schlau von mir, was?“ Mein nächtlicher Spaziergang hatte sich deutlich in mein Bewusstsein

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