Danse Macabre
»Du-kannst-sie-vor-deinen-Augen-sehen«-Stadt und der regelrechten Fantasy seiner
Sporen, die folgen wird, zu nähen. Diese Naht näht er mit so
feinen Stichen, daß wir die Veränderung kaum bemerken, als
wir die Grenze von der Welt, wie sie wirklich existiert, in die
Welt des rein Erfundenen überschreiten. Das ist eine große
Errungenschaft, und sie sieht so einfach aus, daß man glauben könnte, jeder könnte sie bewerkstelligen - wie bei einem
Zauberkünstler, der die Karten mühelos über seine Finger
gleiten lassen kann. Man sieht den Trick, aber nicht die langen Übungsstunden, die erforderlich waren, ihn zu beherrschen.
Bei Rosemary’s Baby haben wir kurz von Paranoia gesprochen; in The Body Snatchers wird die Paranoia voll, abgerundet und vollständig. Wenn wir allesamt latente Paranoide sind
- wenn wir rasch an uns hinuntersehen, wenn bei einer Cocktailparty Gelächter laut wird, um uns zu vergewissern, daß
unser Reißverschluß zu ist und sie nicht über uns lachen -,
dann möchte ich sagen, daß Finney diese latente Paranoia
ganz vorsätzlich benützt, um unsere Emotionen zugunsten
von Miles, Becky und Miles’ Freunden, den Belicecs, zu manipulieren.
Wilma zum Beispiel kann keinen Beweis erbringen, daß ihr
Onkel Ira nicht mehr ihr Onkel Ira ist, aber sie beeindruckt
uns mit ihrer felsenfesten Überzeugung und mit einer tiefen,
freischwebenden Angst, die so durchdringend wie Migränekopfschmerzen ist. Hier haben wir eine Art paranoiden
Traum, der so überzeugend ist wie alles aus einem Roman
von Paul Bowles oder einer unheimlichen Geschichte von
Joyce Carol Oates:
Wilma sah mich durchdringend an. »Ich habe bis heute gewartet«, flüsterte sie. »Gewartet, bis er sich die Haare
schneiden lassen würde, und das hat er endlich getan.« Sie
beugte sich wieder zu mir, ihre Augen waren groß, ihre
Stimme ein zischelndes Flüstern. »Ira hat eine kleine
Narbe im Nacken; er hatte einmal eine Platzwunde, und
dein Vater hat sie genäht. Man kann die Narbe nicht
sehen«, flüsterte sie, »wenn er die Haare schneiden lassen
muß. Aber wenn sein Nacken ausrasiert ist, sieht man sie.
Nun, heute - ich habe darauf gewartet -, heute hat er sich
die Haare schneiden lassen …«
Ich lehnte mich plötzlich aufgeregt nach vorne. »Und die
Narbe ist verschwunden? Du meinst …«
»Nein!« sagte sie fast indigniert mit blitzenden Augen. »Sie
ist da die Narbe - genau wie die von Onkel Ira!«
Finney tut hiermit kund, daß wir uns in einer Welt völliger
Subjektivität befinden … und völliger Paranoia. Wir glauben
Wilma natürlich sofort, auch wenn wir keinen echten Beweis
haben; einzig und allein aus dem Grund, weil wir vom Titel
des Buches wissen, daß die Körperfresser irgendwo dort
draußen sind.
Indem er uns von Anfang an auf die Seite von Wilma
schlägt, hat Finney uns in Äquivalente von Johannes dem
Täufer verwandelt, der in der Wüste weinte. Es ist leicht zu
verstehen, weshalb das Buch so begierig von denen aufgegriffen wurde, die in den frühen fünfziger Jahren der Überzeugung waren, daß entweder eine kommunistische Verschwörung im Gange war oder möglicherweise eine faschistische
Verschwörung, die im Namen des Antikommunismus handelte. Denn ob dieses oder jenes, es handelt sich um ein Buch
über eine Verschwörung mit starken paranoiden Obertönen …, mit anderen Worten, genau die Art von Geschichte,
die von politischen Irren jeglicher Couleur als politische Allegorie vereinnahmt werden kann.
Ich habe vorhin erwähnt, daß die Vorstellung perfekter Paranoia die des perfekten Bewußtseins ist. Dazu könnten wir
noch hinzufügen, daß Paranoia der letzte Verteidigungsmechanismus des überlasteten Verstandes sein könnte. Ein
Großteil der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, von so
unterschiedlichen Autoren wie Bertolt Brecht, Jean-Paul
Sartre, Edward Albee, Thomas Hardy, sogar F. Scott Fitzgerald, hat angedeutet, daß wir in einer existentialistischenWelt
leben, einem planlosen Irrenhaus, in dem die Dinge eben einfach passieren. IST GOTT TOT ? fragt das Titelblatt der Zeitschrift Time im Wartezimmer von Rosemarie Woodhouses satanischem Frauenarzt. In einer solchen Welt ist es vollkommen glaubwürdig, daß ein Geisteskranker mit einem T-Shirt
Marke Hanes im obersten Stockwerk eines wenig frequentierten Gebäudes sitzt, Grillhähnchen futtert und mit seiner
gebrauchten, per Versandhaus gekauften Flinte darauf wartet, einem US-Präsidenten das Hirn wegzupusten; vollkommen glaubwürdig, daß ein
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