Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
Lager scheint riesig zu sein, es erstreckt sich, Wagen an Wagen, bis zu einer riesigen Felswand, als würde sich dort alles zusammendrängen, um Schutz zu suchen. Von hier aus wirkt alles einsam und verlassen, aber es scheinen überall Augen aufzublinken. Vielleicht bin ich aber auch nur übermüdet und hungrig. Die Sache mit dem heiligen Ort macht mir genauso Sorge wie die Tatsache, dass Dusk nicht zum Rudel gehört und anscheinend vollkommen mitleidslos zum Sterben in den Schnee geworfen worden ist.
Meine Kräfte sind erlahmt, ich bleibe hinter Dawna und Dusk stehen und meine trägen Gedanken hören in einem ewigen Echo die Worte »Heiliger Ort« und »muss sterben«. Dazwischen schieben sich nur in abgerissenen Wortfetzen die Worte meiner Mutter. Meine Bestimmung. Mein Ort. Der Ort, wo ich hingehöre. Mum schiebt sich an mir vorbei und schlägt die Hand vor den Mund.
»Sie sind weg«, flüstert sie. »Wir sind zu spät.«
Dusk stößt nur ein Wort hervor, es klingt wie ein Knurren und ich verstehe es nicht. Wieder blinkt irgendwo ein Augenpaar auf, ich blinzle und bin mir nicht mehr sicher, ob ich tatsächlich etwas gesehen habe.
Mit grimmiger Entschlossenheit geht Dawna weiter auf die Wagen zu und alle folgen ihr wortlos. Die Wagen sind schon lange nicht bewegt worden, an den Radkästen hängen dicke Eiszapfen. Alles ist winterdicht gemacht, die Wagen sind mit Bretterverschlägen geschützt, über den Dächern sind noch zusätzliche Wellblechdächer gebaut und bei einigen sind diese Dächer noch so weit nach vorne gezogen, dass sie eine überdachte Veranda haben. Dicke Schneehauben liegen auf den Dächern und lassen das alles sehr romantisch aussehen, aber wenn der Schnee schmilzt, wird das nicht mehr so sein. Das Licht des Mondes lässt einzelne Schneekristalle glitzern. Es ist nicht ausgestorben, alles scheint zu atmen, zu blinzeln und zu wispern. Tausend Augen, die uns beobachten, die Stille ist ganz und gar erfüllt von einer besonderen Stimmung. Je länger man steht, desto mehr Details tauchen aus der Dunkelheit auf. Der tiefe Schnee ist an vielen Stellen zusammengetrampelt, Pfade führen zu einem Platz in der Mitte, verzweigen sich, umrunden den einen Wagen, den anderen nicht. Wie gemeißelt sieht man an manchen Stellen die Fußabdrücke, an anderen wiederum scheinen es nur Pfotenabdrücke zu sein. Es ist nicht die Mitte der Wagenburg, die vor uns liegt, es ist nur ein großer Eingang, der vielleicht nur so wirkt, als könnte man hier eine Versammlung abhalten, die Wagen dahinter verschwinden in der Dunkelheit.
Wir sind kurz davor, alles zu erreichen, das Unmögliche. Mum zu überzeugen, wäre noch vor drei Tagen undenkbar gewesen. Den Aufenthaltsort von Emma zu finden, genauso. Und dann nur mit einem GPS ausgerüstet durch den Schnee stapfend das geheime Versteck der Zigeuner zu entdecken … Trotzdem, oder vielleicht deswegen, habe ich ein ungutes Gefühl. Die Stille lässt mir mein Herz in den Ohren hämmern, sie scheinen überempfindlich für jedes Geräusch zu sein.
»Hallo?«, schreit Dawna.
Aus dem Wald tönt ein leises Echo ihrer Worte.
»Keiner zu Hause«, vermute ich. »Die haben wohl keinen Bock auf Konversation mit uns.«
Im selben Moment fällt Licht durch eine geöffnete Tür, das gleich wieder durch den Schatten eines breitschultrigen Mannes verfinstert wird. Meine Beine wollen laufen, mein Kopf sagt mir, dass ich auf fremdem Territorium bin, dass ich nicht dazugehöre und nicht hier sein darf. Der Mann tritt betont langsam auf die Veranda. Er hat dicke klobige Stiefel an, eine schwarze Lederhose und die dazu passende Lederjacke. Während er näher kommt, meine ich, Vertrautes in seinem Gang zu bemerken. Sonnenverbrannt und dunkel ist sein Gesicht, sein dunkles Haar lockt sich bis zu den Schultern. Sein Blick sagt alles, Hochmut und Arroganz liegen darin und die Gewissheit, dass er uns überlegen ist. Dass wir gerade in diesem Moment den größten Fauxpas begangen haben, den es an diesem Ort nur gibt: hier zu sein. Hier, an dem heiligen Ort der Wölfe und der Zigeuner, dem Ort, der keinem bekannt ist. Der keinem bekannt sein darf. Keinem, der nicht um sein Leben bangen will.
»Was wollt ihr?«, fragt er und sein Blick bleibt bei Mum hängen. »Du weißt, was wir wollen«, sagt Mum neben mir mit hochmütiger Stimme.
Wie bitte? Moment mal, das ist Dawnas Part!
Hinter dem Mann erscheint eine dünne, kleine alte Frau, ganz in bunte Röcke und Tücher gehüllt, ein kleines Mädchen
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