Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
große, hagere Frau mit feinem weißem Haar, dass ihr weit über die Schultern fällt. Jetzt, ohne ihre Tracht, nur in einem schlichten weißen Kleid und einer kleinen Haube auf dem Kopf, wirkt sie wie aus einem anderen Jahrhundert. Mit der Hand gibt sie uns ein Zeichen, uns zu setzen, während sie mit der anderen das Touchscreen eines Tablets bedient. Ich muss an Mums Erzählung denken, auf der langen Wanderung durch die tief verschneiten Berge, zum Lager der Zigeuner. Es muss die Oberin gewesen sein, die damals nach Whistling Wing kam, als Mum noch ein kleines Mädchen war. Anscheinend wollte sie Granny noch eine Chance geben, zum Orden zurückzukehren, sie wollte Mum gemäß ihrer Bestimmung ins Mutterhaus holen. Doch Granny lehnte ab. War sie sich sicher, dass wir es ohne den Orden schaffen würden? Und sollen wir auf sie vertrauen?
Wir setzen uns schweigend auf die beiden Stühle vor dem Schreibtisch der Oberin und warten, bis auch sie sich setzt, das Tablet zur Seite schiebt und endlich zu uns aufblickt. Eine unbestimmte Nervosität setzt sich in mir fest, die Ahnung, dass mir das, was ich hören werde, nicht gefallen wird. Ich wünschte, Emma wäre hier. Ich wünschte, Granny könnte uns unterstützen, doch wir sind alleine und müssen auch alleine Entscheidungen treffen.
»Die ersten Vögel haben Whistling Wing erreicht.« Sie stellt diesen Satz einfach in den Raum und scheint darauf keine Reaktion zu erwarten. »Sie kommen von allen Toren, die über die Welt verstreut sind.«
Ihre Augen sind ausdruckslos, als sie mich anblickt, und kurz denke ich, dass sie etwas zu dem Vorfall in der Bibliothek sagen will, doch dann schiebt sie eine Weltkarte über den Tisch. Wir beugen uns darüber, sie ist übersät mit Linien, Zeichen und Zahlen, die wir nicht verstehen, doch wir können die Tore erkennen, sie sind durch einfache Kreuze gekennzeichnet. Die meisten Kreuze sind schwarz, was anscheinend bedeutet, dass sie nicht mehr aktiv sind. Nur das Kreuz von Whistling Wing und zwei andere Kreuze sind weiß. Sie markieren einen Ort auf Kuba und Marquessac, wo das Kloster erbaut wurde.
»Im Laufe der Zeit schlüpften immer wieder Gefallene durch die Tore. Wir versuchen, den Schaden in Grenzen zu halten, doch wir sind nicht allmächtig. Die Gefallenen zerstreuen sich. Ohne Führung sind sie haltlos. Sie vegetieren vor sich hin, unauffällig, über Jahre, Jahrhunderte. Sie verändern sich nicht, sie sind mitten unter uns, doch niemand bemerkt sie. Die meisten zumindest.«
Ich schließe die Augen kurz und sehe strömende Menschenmengen vor mir, Straßenschluchten, in denen sie sich bewegen, ein hektisches, aber geordnetes Durcheinander und darunter die Gefallenen. Der Typ, der an der Straßenecke lehnt und deinen Blick fängt, wenn du an ihm vorübergehst. Der, der über dir wohnt, dessen Briefkasten überquillt. Du denkst, er ist vielleicht drogenabhängig, krank, einsam, aber es stimmt nicht. Es ist der, der dir langsam folgt, wenn du nachts vom Tanzen nach Hause gehst. Du drehst dich nach ihm um und ein ängstliches Gefühl, ein Knoten setzt sich in deinem Herzen fest, aber er holt dich nicht ein. Er ist nur da.
»Sie warten, bis sie den Ruf hören.«
Ich schlucke meine Frage hinunter, denn im Grunde weiß ich, was der Ruf bedeutet. Samael ruft sie, er braucht ihre Hilfe. Und sie gehorchen.
»Weiß man, wie viele es sind?«
»Nein. Bis jetzt gibt es nur Schätzungen. Sie veränderten normalerweise nie ihren Ort, so wie jetzt. Dass sie sich sammeln und fliegen, ist neu.«
Sie macht eine Pause, in der sie flüchtig mit dem Zeigefinger über das Tablet wischt. Eine Seite öffnet sich, in der Zahlen untereinanderstehen, doch ich kann sie nicht entziffern.
»Diese Gefallenen waren der Grund, weswegen die Hüterinnen beschlossen, Tore zu schließen. Es erschien ihnen sicherer.«
Sie lässt ihre Hand über die Karte wandern, ihre Haut ist blass und zerknittert, die Handgelenke schmal.
»Viele Tore wurden vor langer Zeit unbedacht geschlossen.« Ihr Finger bleibt auf einem Kreuz im äußersten Süden Spaniens liegen und fährt zurück bis nach Marquessac. »Ich wünschte, sie hätten es nicht getan. Unsere Linie, die Armengols, sind für das Tor des Ordens verantwortlich. Es ist das bestgehütete Tor der Welt. Es bestand – Gott sei Dank – nie ein Grund, es für immer zu schließen.«
Ein Hauch von Stolz klingt in ihrer Stimme.
»Warum nicht?«, wirft Indie ein. »Jedes geschlossene Tor vereinfacht die
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