Darling
Kisselsiedlung lebte, immer zutiefst suspekt geblieben. Als Sachbearbeiter in der Verwaltung der Allianz hatte er sich jedoch sicher gefühlt. Bis der Versicherungskonzern im Sommer 2006 angekündigt hatte, 7.500
Arbeitsplätze zu streichen und elf von einundzwanzig Standorten in Deutschland dichtzumachen.
Damals war für seinen Vater eine Welt zusammengebrochen. Alle Überstunden, aller Fleiß, alle Loyalität – alles umsonst. Noch im Jahr 2005 hatte das Unternehmen einen Rekordgewinn von 4,4 Milliarden Euro erzielt, und für 2006 war ein Gewinn von mehr als fünf Milliarden Euro prognostiziert worden. Trotzdem sei das Unternehmen nicht profitabel genug, hatte die Konzernleitung den Mitarbeitern verkündet. Um international wettbewerbsfähig zu bleiben, müssten die Renditen der Aktionäre stärker steigen.
Adrian hatte hilflos mit ansehen müssen, wie sein Vater nach dieser Ankündigung in Depressionen verfiel. Ein Mann, der so gut wie nie krank gewesen war, wurde mit 57 Jahren abgefunden und ausgemustert.
„Im besten Alter“, wie er ihm völlig ungläubig versichert hatte. „In meinem Alter ist es aussichtslos, wieder eine so gute Stelle zu finden.“
Jetzt war er 59 und wartete resigniert auf seinen ersten Hartz-IV-Bescheid. Mit Antidepressiva verschaffte er sich seitdem immer wieder Linderung von seinen chronischen Schmerzen. Seit knapp zwei Jahren steckte sein Vater nun in dieser Endlosschleife aus schwindender Hoffnung und zunehmender Ohnmacht. Wenn Adrian am Wochenende seine Eltern besuchte, machte ihn die Situation seines Vaters hilflos. Wobei ihn der Druck, dass er jetzt Karriere machen müsse, zunehmend in eine innere Verweigerungshaltung trieb.
Es war der gleiche Druck, den auch Annika auf ihn ausübte. Nur von der anderen Seite. Ob er Karriere – oder das, was sie dafür hielten – machen wollte, wurde er erst gar nicht gefragt. Welchen vernünftigen Grund gab es, in dieses erbarmungslose Hamsterrad einzusteigen? Lebte ihm dieses System nicht permanent vor, dass er bis zum Anschlag schuften und rackern konnte und trotzdem niemals auf der sicheren Seite ankommen würde?
Clara trat plötzlich aus der Tür und riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Perfekt geschminkt mit hochgestecktem Haar stand sie im eleganten Business-Kostüm vor ihm.
Gedankenverloren blickte er zu ihr.
„Wohin geht die Fahrt?“
„Über den Tod hinaus“, lächelte sie geheimnisvoll. Adrian stutzte.
„Fahren Sie mich zum Frankfurter Hauptfriedhof. Ich will mir in der Trauerhalle eine Kunstinstallation anschauen.“
Adrian nickte, als ob es in dieser Situation das Selbstverständlichste der Welt sei, zum Friedhof zu fahren, um sich in einem Krematorium kulturell inspirieren zu lassen.
Als er in die Eckenheimer Landstraße einbog, beobachtete er Clara im Rückspiegel. Sie saß ruhig da und sah aus dem Fenster. Er fühlte sich von ihr noch stärker angezogen als Montagnacht auf dem Weg ins Niederräder Klärwerk.
Es war bereits dunkel, als Adrian den Parkplatz vor dem unter Denkmalschutz stehenden Gebäude ansteuerte.
„Suchen wir hier den Mörder von Karl?“, fragte er Clara, nachdem er den Motor abgestellt hatte.
„Nein“, antwortete sie mit fester Stimme. „Wir suchen Lebenszeichen.“
Adrian wirkte irritiert.
„Lebenszeichen? In der Trauerhalle des Hauptfriedhofs?“ Ein Schauder lief ihm den Rücken herunter.
„Kommen Sie mit, ich zeige sie Ihnen“, sagte Clara mit einer Stimme, die wie immer keinen Widerspruch duldete.
Adrian stieg aus. Dunkel und abweisend ragte der Kuppelbau am Eingang zum Frankfurter Hauptfriedhof vor ihm auf. Clara war vorausgeeilt und stand ungeduldig an der Eingangstür.
„Kommen Sie, uns bleibt keine Zeit.“ Sie winkte ihn mit der Hand hektisch heran. „Kennen Sie die Künstlerin Gabriele von Lutzau?“
Adrian schüttelte verneinend den Kopf.
„Nie gehört.“
„Aber den Engel von Mogadischu?“, hakte sie ungehalten nach.
Adrian überlegte.
„War das die Stewardess, die erleben musste, wie der Kapitän von Terroristen erschossen wurde?“, fragte er.
Clara nickte.
„Die Künstlerin stellt hier in der Pflanzenhalle einige interessante Exponate aus“, erklärte sie mit flüsternder Stimme.
„Die Skulpturen sind sogenannte ‚Lebenszeichen’. Sie befreit die Figuren mit einer Kettensäge aus den Wurzeln abgestorbener Bäume.“
„Mit einer Kettensäge?“ Adrian schauderte.
Kühl und still umgab sie die Totenhalle. Vor ihm ragten im fahlen Licht tief
Weitere Kostenlose Bücher