Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 1. Buch Des Blutes - 1

Das 1. Buch Des Blutes - 1

Titel: Das 1. Buch Des Blutes - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
konnten. Und doch, irgendwo in ihrem Innern, begriffen sie, daß der Tag schwer beladen war mit Schwefel, sie ahnten, daß ihr Leben auf Zehenspitzen stand, um den Himmel zu erreichen.
    Vor allem die Kinder. Sie liefen neben der Rennstrecke her, schrien dabei unzusammenhängende Segenssprüche, ihre Gesichter spiegelten ihre Ängste wider. Manche riefen seinen Namen.
    »Joel! Joel!«
    Oder bildete er sich das bloß ein? Loyers Stoßgebet zum Himmel, hatte er sich das auch nur eingebildet, und die Zeichen auf den strahlenden Gesichtern der Babies, die man hochhielt, damit sie die vorbeilaufenden Athleten sehen konnten ?
    Als sie in die Whitehall einbogen, guckte Frank McCloud verstohlen über die Schulter, und die Hölle packte ihn.
    Es geschah blitzartig. Ganz einfach.
    Er strauchelte. Eine eisige Hand in seiner Brust quetschte das Leben aus ihm heraus. Joel verlangsamte sein Tempo, als er sich dem Mann näherte. Sein Gesicht war purpurn, seine Lippen schaumbedeckt.
    »McCloud«, sagte er und blieb stehen, um seinem großen Rivalen ins magere Gesicht zu starren. Hinter einem Rauchschleier hervor, der das Grau seiner Augen zu Ocker verwandelt hatte, schaute McCloud hinauf zu ihm. Joel streckte eine Hand hinunter, um ihm zu helfen.
    »Faß mich nicht an«, knurrte McCloud. Die Kapillargefäße in seinen Augen quollen auf und bluteten.
    »Ein Krampf?« fragte Joel. »Hast ‘n Krampf?«
    »Lauf, du Mistkerl, lauf«, stöhnte McCloud noch, als ihm die Hand in seinen Eingeweiden das Leben herausriß. Jetzt schwitzte er Blut durch die Poren in seinem Gesicht und weinte rote Tränen. »Lauf, und schau dich nicht um. Schau dich nicht um, um Himmels willen.«
    »Was is’ es, sag?«
    »Lauf um dein Leben!«
    Die Worte waren keine Bitte, sondern ein Befehl.
    Lauf.
    Nicht um Gold oder Ruhm. Bloß dem Tod davon.
    Joel schaute kurz auf und empfand plötzlich überdeutlich, daß ihm irgendein riesenköpfiges Wesen im Rücken war, kalter Atem seinen Nacken streifte.
    Er nahm die Beine in die Hand und lief.
    »-Also, die Strecke hat heut’ offenbar ihre Tücken für die Läufer, Jim.
    Erst geht Loyer zu Boden, völlig unerwartet, schwer zu begreifen, und jetzt ist auch noch Frank McCloud gestürzt. Noch nie vorher hab’ ich was Derartiges gesehn. Aber er hat, scheint’s, ein paar Worte mit Joel Jones geredet, als der ihn überholte; dürfte also nicht ernstlich verletzt sein.«
    McCloud war tot, als man ihn in den Rettungswagen schob, und verwest am nächsten Morgen.
    Joel lief. Du lieber Herr, und wie er lief. Die Sonne wütete jetzt auf seinem Gesicht, wusch die Farbe heraus aus den jubelnden Massen, aus den Gesichtern, aus den Fähnchen. Alles verflachte zu einer einzigen lärmenden Wand, ohne jede Menschlichkeit.
    Joel kannte das Gefühl, das ihn überkam, die Empfindung des Entrücktseins, die Erschöpfung und Überversorgung mit Sauerstoff begleitete. Er lief in einer Blase seines eigenen Bewußtseins; er dachte, schwitzte, litt aus sich selbst, für sich selbst, im Namen seiner selbst.
    Und so schlecht war es gar nicht, dieses Alleinsein. Lieder begannen ihm den Kopf zu füllen: Fetzen von Kirchenliedern, süße Wendungen aus Liebesliedern, schmutzige Reime. Sein Selbst hielt sich untätig in der Schwebe, und sein Traum-Ich, namenlos und ohne Angst, über-nahm das Ruder.
    Weiter vorn, überspült von demselben weißen Regen aus Licht, war Voight. Das war der Feind, das Ding, das es zu überwinden galt.
    Voight, mit seinem schimmernden, in der Sonne schaukelnden Kruzifix. Er konnte es schaffen, vorausgesetzt, er schaute nicht, vorausgesetzt, er schaute nicht…
    Hinter sich.
    Burgess öffnete die Tür des Mercedes und kletterte hinein. Zeit war vergeudet worden, kostbare Zeit. Er sollte beim Parlamentsgebäude sein, an der Ziellinie bereitstehen, um die Läufer gebührend in Empfang zu nehmen. Die unumgängliche Szene war noch zu spielen, in der er das sanfte, lächelnde Gesicht der Demokratie mimen würde.
    Und morgen? Nicht mehr ganz so sanft.
    Seine Hände waren klammfeucht vor Aufregung, und sein Nadelstreifenanzug roch nach dem Ziegenfellmantel, den er in dem Raum zu tragen verpflichtet war. Ach was, niemand würde es bemerken; und selbst wenn, welcher Engländer wäre so taktlos zu erwähnen, daß er nach Ziege röche?
    Diese Untere Kammer war ihm zutiefst zuwider, das andauernde Eis, das verdammte gähnende Loch mit seinem fernen ruinösen Rauschen. Aber das war jetzt alles vorbei. Er hatte die Opferung vollzogen, er

Weitere Kostenlose Bücher