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Das 1. Buch Des Blutes - 1

Das 1. Buch Des Blutes - 1

Titel: Das 1. Buch Des Blutes - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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ich erwartete. Was ich erhielt, war eine Demonstration ihrer Macht. Sie gab sie freimütig, ohne Bosheit, aber ich Wäre ein Narr gewesen, hätte ich keine Warnung aus ihr herausgele-sen. Als erstes erzählte sie mir, wie sie ihre einzigartige Gewalt über die Struktur und Substanz menschlicher Wesen entdeckt hatte. In ihrer Verzweiflung, so sagte sie, als sie dicht davorstand, sich umzu-bringen, war sie in den abgelegensten, dunkelsten Furchen ihres Wesens auf Fähigkeiten gestoßen, von deren Vorhandensein sie nie etwas gewußt hatte. Mächte, die während ihrer Genesung aus jenen Regionen emporstiegen wie Fische zum Licht.
    Dann führte sie mir diese Mächte in geringster Dosis vor, zupfte mir Haare vom Kopf, eins nach dem ändern. Ein Dutzend nur; bloß um mir ihre ungeheuerlichen Fertigkeiten zu demonstrieren. Ich spürte, wie sie ausgingen. Sie sagte bloß: erst eins hinter deinem Ohr, und schon spürte ich die Haut sich zusammenziehen und dann zurück-schnellen, als Finger ihrer Willenskraft mir ein Haar ausrissen. Dann noch eins, und noch eins. Es war eine unglaubliche Darbietung. Sie hatte diese Macht zu einer sublimen Kunst entschärft: Auf meiner Kopfhaut lokalisierte und entfernte sie einzelne Haare mit der Präzision einer Pinzette.
    Offen gestanden, ich saß starr da vor Angst, wußte ich doch, daß sie nur mit mir spielte. Früher oder später, da war ich mir sicher, würde der richtige Zeitpunkt für sie kommen, mich für immer zum Schweigen zu bringen.
    Sie aber hatte Zweifel an sich selbst. Sie gestand mir, dieses Talent, obwohl sie es geschliffen und verfeinert hatte, versetze sie in Schrek-ken. Sie brauchte jemanden, der ihr beibrächte, wie man es optimal benutzte, sagte sie. Und dieser Jemand war nicht ich. Ich war bloß ein Mann, der sie liebte, der sie vor dieser Enthüllung geliebt hatte, und der sie weiter lieben würde, der Ungeheuerlichkeit zum Trotz.
    Und in der Tat, nach dieser Vorführung war ich sehr schnell dazu bereit, mich auf ein neues Bild von Jacqueline einzustellen. Anstatt mich vor ihr zu ängstigen, zerfloß ich nur noch mehr in Hingabe an diese Frau, die es duldete, daß ich sie körperlich besaß.
    Meine Arbeit wurde zur ärgerlichen Störung, zur Ablenkung, die sich zwischen mich und das Denken an meine Geliebte drängte. Mein guter Ruf begann sich zu verschlechtern; ich verlor Mandate, ich verlor Vertrauenswürdigkeit. Innerhalb von zwei, drei Monaten schwand mein Berufsleben fast restlos dahin. Freunde gaben mich auf, Kollegen gingen mir aus dem Weg.
    Nicht daß sie mich etwa ausgesaugt hätte. Das möchte ich ausdrücklich betonen. Sie war kein Vampir, kein Sukkubus. Was mit mir geschah, das Ausgestoßenwerden aus dem gewöhnlichen Leben, wenn ihr so wollt, war allein mein Werk. Sie hat mich nicht verhext; mit dieser romantischen Lüge wird Notzucht gern entschuldigt. Ein Meer war sie. Und ich, ich mußte einfach in ihr schwimmen. Versteht ihr das? Ich hatte mein Leben am Ufer verbracht, in der festgefügten Welt des Rechts, und ich hatte es satt. Sie war flüssig, ein grenzenloses Meer in einem einzelnen Leib, eine Sintflut auf engstem Raum, und mit Freuden will ich in ihr ertrinken, wenn sie mir die Gelegenheit dazu gewährt. Hört ihr: Immer schon war das, ist das mein Entschluß.
    Ich habe mich entschlossen, heute nacht zu dem Zimmer zu gehen und mit ihr ein letztes Mal zusammenzusein. Es geschieht aus meinem eigenen freien Willen.
    Und welcher Mann würde es nicht tun? Sie war (ist) göttlich.
    Nach jener Demonstration der Macht verlebte ich einen Monat nicht enden wollender Ekstase. War ich mit ihr zusammen, zeigte sie mir Spielarten der Liebe, die die Grenzen jeder sonstigen Kreatur auf Gottes Erdboden überstiegen. Die Grenzen überstiegen, sage ich- mit ihr gab es keine Grenzen. Und war ich losgelöst von ihr, setzte der Tagtraum sich fort; schien sie doch mein ganzes Dasein verwandelt zu haben.
    Dann verließ sie mich.
    Ich wußte, warum: Sie hatte sich aufgemacht, um jemanden zu finden, der ihr beibrachte, die Kraft zu gebrauchen. Aber das Verständnis ihrer Beweggründe machte es keinen Deut leichter.
    Ich ging vor die Hunde: verlor meine Stellung, verlor meine Identität, verlor die wenigen Freunde, die mir noch geblieben waren. Ich bemerkte es kaum. Das waren unerhebliche Verluste, gemessen am Verlust von Jacqueline…
    »Jacqueline.«
    Mein Gott, dachte sie, soll das wirklich der einflußreichste Mann im Lande sein? Er sah so unscheinbar aus, so gänzlich

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