Das alte Königreich 02 - Lirael
näherten… eine Heerschar des Grauens, die von Horizont zu Horizont reichte…
»Dazu wird es natürlich nicht kommen«, sagte Touchstone und riss Sam aus seinen schrecklichen Gedanken. »Dafür werden wir sorgen. Die Flüchtlinge dürfen die Mauer gar nicht erst überqueren. Das Problem ist nur, dass wir sie von unserer Seite aus nicht aufhalten können. Die Mauer ist zu lang. Sie hat zu viele zerfallene Tore und zu viele alte Grenzübergänge auf der anderen Seite. Deshalb müssen wir uns etwas einfallen lassen, dass die Ancelstierrer sie gar nicht erst herüberschicken. Aus diesem Grund haben eure Mutter und ich beschlossen, uns nach Ancelstierre zu begeben – heimlich, um keinen Alarm auszulösen. Wir werden nach Corvere reisen und mit der Regierung verhandeln, was zweifellos mehrere Monate dauern wird. Wir verlassen uns darauf, dass ihr euch während dieser Zeit an unserer Stelle um das Königreich kümmert.«
Neuerliches Schweigen folgte dieser Erklärung. Ellimere wirkte sehr nachdenklich, doch ruhig. Sam schluckte mehrmals, ehe er fragte: »Was genau… äh, meint ihr damit?«
»Sowohl für unsere Freunde wie für unsere Feinde werde ich eine diplomatische Mission zu den Barbarenhäuptlingen im Süden unternehmen, und Sabriel wird ihren Aufgaben so entschlossen nachgehen wie immer«, antwortete Touchstone. »Während unserer Abwesenheit wird Ellimere weiterhin gemeinsam mit Jall Oren regieren – daran hat man sich offenbar gewöhnt. Du wirst sie unterstützen, Sameth. Aber am wichtigsten ist, dass du weiterhin das
Buch der Toten
studierst.«
»Wo wir gerade davon reden… ich habe etwas für dich«, fügte Sabriel hinzu, ehe Sam widersprechen konnte. Sie schob ihm ihren Rucksack mit sichtlicher Anstrengung zu. »Schau oben hinein.«
Langsam öffnete Sam die Gurte. Ihm war plötzlich übel, denn ihm war klar, dass er es ihnen jetzt sagen musste, sonst würde er nicht mehr dazu kommen. Nie mehr.
Ein in Ölhaut gewickeltes Paket befand sich obenauf. Sameth zog es mit plötzlich eisig kalten Fingern unbeholfen heraus. Dann hörte er Sabriels Stimme. Sie klang, als käme sie aus einem anderen Raum.
»Ich habe sie im Haus entdeckt – oder vielmehr die Sendlinge hatten sie für mich hergerichtet. Wo sie diese Gegenstände gefunden haben, weiß ich nicht, ebenso wenig, warum sie sie ausgerechnet jetzt hervorholten. Sie sind sehr, sehr alt. So alt, dass ich keine Unterlagen habe, wer sie zuerst getragen hat. Ich hätte Mogget gefragt, aber er schläft noch…«
Mogget, ein Wesen in Katzengestalt und Vertrauter der Abhorsen, war Ranna unterworfen, der »Schlummerschenkerin«, der ersten der sieben Glocken. Mogget war in den vergangenen gut zwanzig Jahren nur fünf- oder sechsmal aufgewacht.
»Da ich meine eigenen Glocken habe«, fuhr Sabriel fort, »sind die hier zweifellos für den Abhorsen-Nachfolger bestimmt. Meinen Glückwunsch, Sam.«
Sam nickte stumm. Er brauchte das Paket auf seinem Schoß gar nicht zu öffnen, um zu wissen, dass sich in der zerknitterten Ölhaut die sieben mit Charterzeichen behafteten Glocken eines Abhorsen befanden.
»Willst du es denn nicht aufmachen?«, fragte Ellimere.
»Später«, krächzte Sam und versuchte zu lächeln, doch sein Mund zuckte nur.
»Ich bin froh«, sagte Sabriel, »dass wir nun diesen zweiten Satz Glocken haben. Die meisten Abhorsen vor mir mussten sich einen einzigen Satz oft jahrelang mit ihren Nachfolgern teilen. Ich hoffe, Sam, dass auch wir viele Jahre zusammenarbeiten. Mogget hat mir erzählt, dass mein Vater fast ein Jahrzehnt von seiner Tante ausgebildet wurde. Ich habe mir oft gewünscht, dass auch ich diese Gelegenheit bekommen hätte.« Sie zögerte, dann sagte sie rasch: »Ich will ehrlich sein, Sam – ich werde deine Hilfe brauchen.«
Sam nickte bloß, während sein beabsichtigtes Geständnis in seinem Mund vertrocknete. Er hatte das Geburtsrecht, er hatte die Glocken. Offenbar musste er sich nur gewaltig anstrengen, das
Buch der Toten
zu lesen. Er bemühte sich, die Panik zu überwinden, die ihn zu erfassen drohte. Er
würde
der angemessene Abhorsen-Nachfolger werden, den alle erwarteten und brauchten. Er hatte keine Wahl.
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach er und blickte Sabriel endlich in die Augen. Sie lächelte strahlend und umarmte ihn.
»Ich muss nach Ancelstierre, denn ich kenne mich dort immer noch besser aus als euer Vater«, sagte sie. »Und einige meiner alten Schulkameradinnen haben hohe Posten oder einflussreiche
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