Das alte Königreich 03 - Abhorsen
Magie. Ohne die Augen zu öffnen und ohne einen bewussten Gedanken wandte Lirael sich um und rannte los, was die Beine hergaben. Sie achtete nicht auf den Weg, hatte nur das Verlangen, den Brunnen und das Haus hinter sich zu lassen. Ihre Füße folgten wie von selbst den Windungen des Tunnels, obgleich das Licht hinter ihnen zurückblieb und Lirael in der Dunkelheit nicht einmal zu sagen vermochte, ob ihre Augen offen oder geschlossen waren.
Lirael durchquerte Höhlen und Kammern und schmale Gänge. Sie wusste nicht, ob Sam ihr folgte oder ob etwas anderes hinter ihr her war. Es war nicht Angst, die sie vorwärts trieb, denn sie fürchtete sich nicht. Sie war entrückt, irgendwo in die Tiefen ihres Körpers, der wie eine Maschine war, die unentwegt weiterstürmte, aber nicht mehr von ihr gelenkt wurde.
Ebenso abrupt, wie es begonnen hatte, verschwand das triebhafte Verlangen zu laufen. Lirael fiel schaudernd zu Boden und rang mit schmerzender Brust nach Luft. Jeder Muskel tat weh, und sie krümmte sich unter Krämpfen und massierte heftig ihre Waden, die Zähne zusammengebissen, um nicht laut zu schreien.
Nicht weit von ihr tat jemand genau dasselbe. Als Lirael wieder klarer denken konnte, erkannte sie, dass es Sam war. Weit voraus war ein schwaches Licht, das verschwommen seine Umrisse enthüllte. Es war ein natürliches Licht, nicht mehr als ein Schimmer.
Zögernd berührte Lirael den Glockengurt. Die Glocken waren stumm. Ihre Hand tastete nach Nehimas Griff, und sie spürte erleichtert die kühle Festigkeit des Steins am Knauf und dass der Silberdraht nichts anderes war als Silberdraht.
Sam rappelte sich stöhnend auf, stützte sich mit der linken Hand an der Wand ab und verstaute die Panflöte mit der rechten. Lirael verfolgte die beschwörende Bewegung der Hand, auf deren Fläche im nächsten Augenblick ein Charterlicht aufleuchtete.
»Sie war fort, verstehst du?«, sagte er und ließ sich an der Wand zu Boden gleiten, so dass er Lirael gegenübersaß. Er wirkte ruhig, hatte aber offensichtlich einen Schock erlitten. Dass es ihr selbst nicht besser ging, erkannte sie, als sie aufzustehen versuchte und es nicht vermochte.
»Ja, ich weiß, die Charter«, erwiderte sie.
»Was auch geschehen ist«, fuhr Sam fort, »die Charter hatte nichts damit zu tun. Und wer war
sie?«
Lirael schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wieder schüttelte sie den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren.
»Wir müssen… umkehren«, sagte sie und dachte an die Hündin, die jetzt sowohl Mogget als auch der leuchtenden Frau allein in der Dunkelheit gegenüberstand. »Ich kann die Hündin nicht zurücklassen.«
»Was ist mit
ihr?«,
fragte Sam, und Lirael wusste, wen er meinte. »Und Mogget?«
»Ihr braucht nicht umzukehren«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit des Ganges. Lirael und Sam sprangen auf, die Hand am Schwert und von neuem Kampfesmut erfüllt. Lirael wurde bewusst, dass sie die andere Hand auf Saraneth gelegt hatte, wenngleich sie keine Ahnung hatte, was sie mit der Glocke wollte. Keine Weisheiten aus dem
Buch der Toten
oder dem
Buch des Erinnerns und Vergessens
drängten sich in ihr Bewusstsein.
»Ich bin es«, sagte die Stimme bedrückt. Dann kam die Fragwürdige Hündin, den Schwanz zwischen den Beinen, den Kopf gesenkt, langsam ins Licht. Abgesehen von dieser untypischen Haltung schien sie wieder die Alte zu sein. Die Charterzeichen leuchteten wieder um ihren Hals. Ihr kurzes Fell war sandfarben und goldbraun, abgesehen vom schwarzen Rücken.
Lirael zögerte nicht. Sie legte Nehima aus der Hand, schloss die Hündin in die Arme und drückte ihr Gesicht an den Hals ihrer Freundin. Die Hündin leckte Liraels Ohr, doch ohne die gewohnte Begeisterung und das übliche zärtliche Knabbern.
Sam wartete, das Schwert in der Faust.
»Wo ist Mogget?«, fragte er.
»Sie, die leuchtende Erscheinung, wollte mit Mogget sprechen«, erwiderte die Hündin und ließ sich sorgenvoll über Liraels Füße sinken. »Ich habe mich in der Beurteilung der Lage geirrt. Ich habe dich in schreckliche Gefahr gebracht, Herrin.«
»Ich verstehe gar nichts mehr«, erwiderte Lirael. Sie fühlte sich plötzlich furchtbar müde. »Was ist denn passiert? Die Charter… die Charter schien es auf einmal… nicht zu geben.«
»Durch ihr Erscheinen«, erklärte die Hündin. »Es ist ihr Schicksal, dass ihr bewusstes Ich stets außerhalb von dem sein wird, was ihr zu erschaffen gefällt, der
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