Das Bernstein-Teleskop
mehrmals.
»Und was für eine Krankheit handelt es sich denn und wen hat sie befallen?«, erkundigte sich der Alte.
»Um eine Schlafkrankheit«, erklärte Ama. »Der Sohn des Cousins meines Vaters hat sie.«
Sie wollte es besonders raffiniert anstellen und hatte das Geschlecht des Kranken geändert, nur für den Fall, dass der Heilkundige von der Frau in der Höhle gehört hatte.
»Und wie alt ist der Junge?«
»Zwei Jahre älter als ich, Pagdzintulku, also zwölf. Er schläft andauernd und wacht nicht auf.«
»Warum sind nicht seine Eltern zu mir gekommen? Warum schicken sie dich?«
»Sie leben weit draußen auf der anderen Seite meines Dorfes und sind sehr arm, Pagdzintulku. Ich habe erst gestern von der Krankheit meines Verwandten erfahren und bin gleich heute losgegangen, um Euch um Rat zu fragen.«
»Ich muss den Patienten sehen und ihn gründlich untersuchen und die Konstellation der Planeten zu der Stunde, in der er eingeschlafen ist, berechnen. So etwas braucht Zeit.«
»Gibt es denn keine Arznei, die Ihr mir für ihn mitgeben könnt?«
Der schwarze Fledermaus-Dæmon flog im Sturzflug von seinem Balken herunter, fing sich dicht über dem Boden flatternd und schoss lautlos im Zickzack durch die Zelle, so schnell, dass Ama ihm mit ihrem Blick nicht folgen konnte. Die glänzenden Augen des Heilers dagegen sahen genau, wo der Dæmon gewesen war, und als die Fledermaus wieder mit gefalteten Schwingen kopfunter an ihrem Balken hing, stand der Mann auf, ging von Regal zu Regal, von Krug zu Krug und von Kästchen zu Kästchen und entnahm in genau der Reihenfolge, in der sein Dæmon an die jeweiligen Behälter geflogen war, hier einen Löffel Pulver und dort eine Prise Kräuter.
Der Weise schüttete die Zutaten in einen Mörser und begann sie zu zerstampfen. Dabei murmelte er einen Zauberspruch. Dann klopfte er den Stößel am klingenden Rand des Mörsers ab, bis kein Körnchen mehr daran klebte, nahm Pinsel und Tinte und schrieb einige Buchstaben auf ein Blatt Papier. Als die Tinte trocken war, schüttete er das Pulver auf die Schrift und faltete das Papier zu einem kleinen, viereckigen Päckchen zusammen.
»Immer wenn der schlafende Junge einatmet, sollen die Eltern ein wenig von diesem Pulver in seine Nasenlöcher stäuben«, erklärte er. »Dann wacht er auf. Doch ist größte Vorsicht geboten. Wenn er zu viel auf einmal in die Nase bekommt, erstickt er. Die Eltern sollen dazu einen ganz weichen Pinsel verwenden.«
»Danke, Pagdzintulku«, sagte Ama. Sie nahm das Päckchen und steckte es in die Tasche des Hemds, das sie ganz innen trug. »Ich würde Euch gern noch ein Honigbrot geben, aber ich habe keins mehr.« »Eins reicht«, sagte der Heiler. »Jetzt geh, und beim nächsten Mal erzähl mir die ganze Wahrheit, nicht nur einen Teil.«
Ama wurde rot und verneigte sich tief, um ihre Verwirrung zu verbergen. Hoffentlich hatte sie nicht zu viel verraten.
Am nächsten Abend eilte sie, so früh sie konnte, in das Tal. In der Hand hielt sie in ein Blatt des Herzfruchtbaums eingeschlagenen süßen Reis. Sie brannte darauf, der Frau zu sagen, was sie getan hatte, und ihr das Mittel zu geben und dafür gelobt zu werden. Das verzauberte Mädchen würde aufwachen und mit ihr sprechen. Vielleicht konnten sie Freundinnen werden!
Doch als sie um die letzte Kurve bog und nach oben blickte, sah sie keinen goldenen Affen und keine Frau geduldig am Eingang der Höhle sitzen. Der Ort wirkte verlassen. Ama rannte die letzten Meter voller Furcht, die Frau könnte endgültig gegangen sein - doch da waren der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, das Kochgeschirr und alles andere. Mit klopfendem Herzen sah Ama in den dunklen hinteren Teil der Höhle. Natürlich, das fremde Mädchen schlief immer noch. Ama sah im Dämmerlicht die Umrisse des Schlafsacks, einen hellen Fleck, nämlich die Haare des Mädchens, und etwas länglich Gekrümmtes, ihren schlafenden Dæmon. Vor sichtig ging sie ein paar Schritte in die Höhle hinein. Es bestand kein Zweifel - die Frau war ausgegangen und hatte das verzauberte Mädchen allein zurückgelassen.
Plötzlich hatte Ama einen großartigen Einfall: Wenn sie das Mädchen einfach aufweckte, bevor die Frau zurückkam? Sie hatte noch kaum Zeit gehabt, sich über ihre Idee zu freuen, da hörte sie auf dem Weg draußen Schritte. Schuldbewusst duckte Ama sich mit ihrem Dæmon in eine Felsspalte an der Seite der Höhle. Sie hatte kein Recht, hier zu sein. Das würde man ihr als
Weitere Kostenlose Bücher