Das Bernsteinerbe
ebenfalls das Kontor zu verlassen. »Lina ist übrigens mit Milla dabei, den Vorratskeller aufzuräumen«, setzte sie nach und freute sich an seinem erstaunten Blick. »Es ist mir nicht entgangen, welche Gefühle Ihr füreinander hegt. Solange Euer beider Arbeit nicht darunter leidet, habe ich nichts dagegen.«
Letzteres sagte sie so leise, dass es die anderen Schreiber nicht hören konnten. Steutner dankte es ihr mit einer Verbeugung.
Als sie sich wenig später im geschäftigen Treiben auf der Langgasse wiederfand, atmete sie auf. Eigentlich sollte sie Egloffs Warnung ernst nehmen und zuerst in den Speicher gehen. Zwar hatte sie ihm eben im Kontor nicht recht geben wollen, doch ihr war wohl bewusst, dass es an der Zeit war, mit Schrempf über die Sicherheit der Waren zu sprechen. Dabei sorgte sie sich allerdings weniger der Wirren rund um den Landtag und der aufmüpfigen Diskussionen zwischen Friedrich Wilhelm und den Ständen wegen. Weit mehr beunruhigten sie die Wetterkapriolen. Gut möglich, dass der Winter früher und härter einsetzen würde als in den Jahren zuvor. Pregel und Haff konnten für die Schiffe schnell unpassierbar sein. Wieder durchzuckte sie ein stechender Schmerz in der linken Kopfhälfte, ein eindeutiges Zeichen, den heutigen Sonnenschein besser nur als ein neuerliches Atemholen vor dem nächsten Sturm zu sehen.
Trotzdem ging sie nicht zum Hundegatt, sondern lenkte ihre Schritte nach rechts, die Langgasse zum Grünen Tor hinunter. Auch wenn sie es sich nur schwer eingestehen wollte, bereitete ihr etwas anderes noch größere Sorgen: Viel zu lange schon hatte sich Helmbrecht nicht mehr blicken lassen. Auch Marietta Leuwenhoeck hatte ihre Ankündigung, sie im Kontor aufzusuchen, bislang nicht wahr gemacht. Sie sollte sich Gewissheit verschaffen, was die beiden stattdessen taten.
Zielstrebig eilte sie durch das bunte Treiben auf der Straße. Ihre Gedanken waren bereits ganz bei dem Gespräch, das sie mit ihrer neuen Bekannten aus Flandern führen wollte. Erst als das Gasthaus zum Grünen Baum in Sicht kam, fiel ihr auf, wie ungewöhnlich knapp sie von ihren Mitbürgern gegrüßt wurde. Zunächst meinte sie, es läge an ihrer eigenen Unachtsamkeit oder daran, dass die meisten ebenfalls mit sich selbst beschäftigt waren. Dann aber wurde sie gewahr, wie viele Kneiphofer sich in kleinen Gruppen vor den Beischlägen oder an den Straßenecken sammelten, um ausgiebig miteinander zu reden. Dennoch machte niemand Anstalten, sie dazuzubitten. Mehr und mehr ihrer Mitbürger wandten ihr den Rücken zu, sobald sie ihrer ansichtig wurden. Das konnte kein Zufall mehr sein.
»Gott zum Gruße, werte Frau Ellwart«, rief sie der Witwe aus der Fleischbänkenstraße zu, die gerade die Treppenstufen des Beischlags vor Heinrich von Möllens Haus herunterkam. »Was machen Eure Knochen bei diesem Wetter? Gewiss spürt Ihr schon an dem leidigen Gliederreißen, wie rasch die Sonne uns wieder verlassen wird. Neue Schneestürme werden uns wohl ab morgen wieder ins Haus zwingen.« Sie blieb stehen und sah der Alten erwartungsvoll entgegen.
»Macht Euch keine Gedanken, verehrte Frau Grohnert«, erwiderte die mit ihrer ungewöhnlich hellen Stimme. »Es ist nicht so schlimm, dass ich neue Tropfen von Euch brauche.«
Schon ging sie an ihr vorbei. Verblüfft blickte Magdalena ihr nach. Noch nie hatte die Ellwart sie derart brüsk behandelt, ganz zu schweigen davon, dass sie je ihre Bernsteinessenz abgewiesen hätte. Nachdenklich ging Magdalena weiter, grüßte betont freundlich alle Bekannten, die ihr begegneten. Balthasar Platen trat im selben Moment auf die Straße, da sie sein imposantes Anwesen erreichte. So offensichtlich es war, dass er wie sie zur Börse wollte, so beflissen wechselte er wie zufällig auf die andere Straßenseite hinüber, kaum dass sie auf gleicher Höhe waren.
Vor dem Grünen Baum angelangt, beschloss sie, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit zum Vormittagsfrühstück im Gasthaus einzukehren. Dort trafen sich um diese Zeit viele Kaufmannsgenossen zum ersten Bier des Tages. Das gemeinsame Trinken versetzte die Männer in eine bessere Stimmung. Vielleicht würde sie dort eine Erklärung für das seltsame Gebaren ihrer Mitbürger aufschnappen. Auch war gut möglich, Helmbrecht um diese Stunde dort anzutreffen. Entschlossen stieg sie die Treppe hinauf.
Wie nicht anders zu erwarten, herrschte in dem hellen Gastraum ausgelassene Stimmung. »Welch freudige Überraschung, verehrte Frau Grohnert«,
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