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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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die Augen zusammen. »Gerade eben ist er oben im ersten Geschoss am Fenster gewesen und hat auf die Straße geschaut. Jetzt ist er verschwunden. Vielleicht versucht er, nach hintenheraus zu entkommen.«
    »Wie denn? Dort ist doch auch alles voller Soldaten.« Carlotta erschrak, als sie merkte, wie laut ihre Worte in der Gasse widerhallten. Um sie herum war es schlagartig still geworden, selbst der Wind hatte sich wie auf Kommando gelegt. Das Tänzeln der Pferdehufe auf dem Pflaster war das Einzige, was zu vernehmen war. Auf einmal hatte sie das Gefühl, alle Köpfe drehten sich um und die Leute starrten sie an. Sie spürte, wie ein dicker Kloß ihr die Kehle verstopfte.
    Ein Mann mit einem leuchtend roten Bart fiel ihr auf, der spitze schwarze Hut ragte aus der Menge empor. War das nicht Lorenz Gellert, einer der Kaufmannsgenossen aus dem Kneiphof? Sie wollte grüßen, da wandte er sich brüsk ab und tauchte in der Masse der Neugierigen unter. Kurz sah sie ihm nach, um sich dann rasch wieder umzudrehen.
    Ihr Blick wanderte über die Gesichter der Dragoner. Sie waren jung, kaum älter als sie, höchstens Anfang, Mitte zwanzig. Ihre Mienen waren verschlossen, grimmig, als machten sie sich auf diese Weise selbst Mut. Einer sah wie der andere aus, zumindest glaubte sie das. Bis sie an einem der glattrasierten Gesichter hängenblieb. Es kam ihr bekannt vor, allzu bekannt. Der Offizier im Schlosshof am letzten Mittwoch. Ihr wurde flau.
    Sie schloss die Augen, sammelte die Gedanken, schlug die Lider wieder auf. Es konnte nicht sein, nein, das war absolut unmöglich. Ihr wurde die Kehle trocken, es kratzte im Hals. Da erst wurde ihr bewusst, dass sie aufgeschrien hatte. Sie vermochte nicht, den Mund einfach wieder zu schließen, sondern stierte weiter wie gebannt auf den dunkelhaarigen, hochgeschossenen Kerl mit der gewaltigen langen Nase in dem blassen Gesicht. Jede einzelne Pore darauf kannte sie, jede kleine Unebenheit war sie mit den Fingerkuppen schon nachgefahren. Es war ihr, als fühlte sie die Wärme seiner Haut in diesem Moment an den Fingerspitzen kribbeln, roch den langvermissten Duft seines Körpers in der Nase. Ihre Wangen begannen zu glühen. Im Rausch der heftig aufwallenden Erinnerung drohten die letzten vier Jahre mitsamt der unschuldigen Liebe zu Christoph fortgespült zu werden. Wie gelähmt stand sie da, unfähig, sich dem reißenden Strudel entgegenzustemmen.
    Auch der schwarzhaarige Dragoner saß wie erstarrt auf seinem Rappen und blickte fassungslos aus seinen dunklen Augen auf sie herunter.
    »Mathias!«, murmelte sie und streckte die Hand aus, krallte die Finger haltsuchend in Christophs Oberarm.
    Einen Augenblick meinte sie, der Reiter säße von seinem Pferd ab und käme auf sie zu. Sie hielt den Atem an, sehnte sich mit jeder einzelnen Faser ihres Körpers danach, von ihm berührt, in die Arme genommen und an sich gedrückt zu werden. Der Bursche in dem preußischen Blaurock auf dem Rappen sah nicht nur aus wie Mathias Steinacker, er war Mathias Steinacker, der einzige Sohn des Vetters und einstigen Geschäftskumpans ihres Vaters aus Frankfurt am Main. Doch er war nicht der Mathias Steinacker, den sie einst gekannt und lieben gelernt hatte, beruhigte sie sich sogleich. Vier Jahre und eine ganze Ewigkeit lagen dazwischen.
    Bewegung kam in die Menge, ein heiseres Kommando erklang, und die Dragoner machten allesamt kehrt. Unruhig schüttelten die Rösser den Schnee aus den Mähnen, schlugen mit dem Schweif nach dem bitterkalten Nass. Ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen, gab Mathias seinem Rappen die Sporen, ritt mit seinen Kameraden nach vorn, auf Roths Haus zu. Christoph zog sie beiseite, um die hinter ihnen stehenden Reiter ebenfalls durchzulassen. Wie versteinert verfolgte sie, wie eine Handvoll Dragoner vor dem Haus des Kneiphofer Schöppenmeisters absaßen und mit gezückten Säbeln ins Haus eindrangen. Die anderen bildeten in einigen Schritt Entfernung einen schützenden Halbkreis um das Anwesen. Sie war zu klein, um über die Köpfe der anderen hinweg mehr zu erkennen, selbst Christoph mochte sich recken und strecken, so viel er wollte. Bedauernd zuckte er mit den Schultern.
    Die Leute auf der Straße murrten. Dennoch wagte niemand, sich den preußischen Soldaten zu widersetzen oder sie gar an ihrem Treiben in Roths Haus zu hindern. Christoph hatte also recht behalten: Die Königsberger waren zwar stets scharf mit der Zunge, aber niemals scharf mit den Waffen, geschweige denn bereit,

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