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Das blaue Zimmer

Das blaue Zimmer

Titel: Das blaue Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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ehrlich, er war so nett, und er hat so getan, als würde er gar nicht sehen, daß ich heule, das war doch taktvoll, findest du nicht?“
    Veronica wollte ihm danken, aber sie bekam ihn drei Wochen nicht zu sehen, und danach war sie überzeugt, daß er den Vorfall längst vergessen hatte. Und ein anderes Mal kam James mit einem Gerät aus einem Kastanienast und einer Sehne nebst einem Packen tödlich scharf angespitzter Zweige zum Abendessen nach Hause.
    „Was hast du da?“
    „Das ist ein Flitzebogen mit Pfeilen.“
    „Sieht gefährlich aus. Wo hast du den her?“
    „Ich hab den Professor getroffen. Er hat ihn mir gemacht. Guck, man muß die Sehne locker lassen, wenn man ihn nicht benutzt, und wenn man schießen will, muß man den Stab ein bißchen biegen und die Sehne spannen… So! Siehst du? Ist doch super, oder? Damit kann man kilometerweit schießen.“
    „Du darfst damit nie auf Menschen zielen“, sagte Veronica ängstlich.
    „Mach ich nicht, auch nicht, wenn ich jemand hasse“, sagte er. „Ich muß mir eine Zielscheibe bauen.“ James ließ die Sehne schnappen. Ein angenehmes Schwirren ertönte, wie wenn man eine Harfe zupfte.
    „Hoffentlich hast du dich auch bedankt“, sagte seine Mutter.
    „Na klar. Er ist furchtbar nett. Könntest du ihn nicht mal einladen, zum Tee oder zum Abendessen?“
    „0 James, das würde ihm bestimmt nicht passen. Er arbeitet, er will nicht gestört werden. Ich glaube, es wäre ihm schrecklich unangenehm.“
    „Ja, kann sein.“ Er ließ den Bogen noch einmal schwirren und brachte ihn oben in seinem Zimmer in Sicherheit.
    Veronica hörte, wie innen im Haus, auf der Seite des Professors, ein Fenster geschlossen wurde. Dann öffnete er die Terrassentür seines Wohnzimmers, das früher, als das Haus noch ungeteilt war, das Eßzimmer gewesen war, und ging in den Garten. Gleich darauf erschien sein bebrillter Kopf über dem Zaun, und er sagte: „Möchten Sie eine Tasse Tee?“
    Einen verrückten Moment lang dachte Veronica, er spreche mit jemand anderem. Sie sah sich hektisch um, wer das sein könnte. Aber es war niemand anders da. Er sprach mit ihr. Er lud sie zu einer Tasse Tee ein, aber wenn er vorgeschlagen hätte, hier und jetzt rund um den Rasen Walzer zu tanzen, sie hätte nicht erstaunter sein können. Sie starrte ihn an. Er hatte keinen Hut auf, und der Wind richtete seine Haare zu einem Hahnenkamm auf, genau wie bei James.
    Er versuchte es noch einmal. „Ich habe eine frische Kanne gekocht. Ich könnte ihn hier herausbringen.“
    Blitzartig legte sie ihre schlechten Manieren ab. „Oh, Verzeihung… es kam so überraschend. Ja, ich trinke gerne eine Tasse… “ Sie begann sich umständlich aus ihrem Liegestuhl hochzurappeln, aber er hielt sie zurück.
    „Nein, nicht bewegen. Sie sehen so friedlich aus. Ich bringe ihn heraus.“
    Sie ließ sich in den Liegestuhl zurückfallen. Der Professor verschwand. Veronica dachte über diese verblüffende neue Situation nach. Und sie lächelte, über sich, über ihn, über das Absurde daran. Sie zog ihren Rock über die Knie herunter und versuchte, sich zu fassen. Sie war gespannt, worüber sie spre chen würden.
    Als er wiederkam und sich vorsichtig durch eine schmale Lücke im Zaun aus seinem Garten drängte, sah sie zu ihrem Erstaunen, daß er alles perfekt angerichtet hatte. Sie hatte einen Becher Tee erwartet, sonst nichts, aber er trug ein belade nes Tablett und hatte eine dicke karierte Decke über eine Schulter geworfen. Er stellte das Tablett neben Veronica ins Gras, breitete die Decke aus und setzte sich darauf, wobei er seinen langen Körper zusammenfaltete wie ein Klappmesser. Er trug eine alte Cordhose, die jemand unbeholfen am Knie ge flickt hatte, und am Kragen seines karierten Hemdes fehlte ein Knopf, aber er sah keineswegs bejammernswert aus, eher wie ein fröhlicher Zigeuner. Sie fragte sich, wie er es fertigbrachte, so braun und mager zu bleiben, wenn er offensichtlich die mei ste Zeit im Haus verbrachte.
    „So“, sagte er, als er es sich bequem gemacht hatte, „jetzt müssen Sie einschenken.“
    Das Geschirr paßte nicht zusammen, aber er hatte nichts vergessen, und es gab sogar ein Stück von Mrs. Thomas’ Früchtekuchen zu essen.
    Sie sagte: „Das sieht köstlich aus. Ich mache mir gewöhnlich keine Arbeit mit dem Tee – das heißt, wenn ich allein bin.“
    „Die Kinder sind abgereist.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.
    „Ja…“ Sie hantierte mit der Teekanne. „Ich habe James eben

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