Das Blut des Skorpions
die sich im Haus herumtrieben, strichen ihm lautlos um die Beine, wobei er sein gerade errungenes wackeliges Gleichgewicht wieder verlor und stolperte. Er versuchte dem Tier, das ihm am nächsten war, einen Tritt zu versetzen, aber es war zu flink und er zu benommen, als dass er getroffen hätte.
Ächzend richtete er sich wieder auf und brauchte ein paar Augenblicke, um sich zurechtzufinden. Seine Erinnerungen an die letzte Nacht waren wirr und verschwommen wie ein komplizierter Traum, der bei Tagesanbruch nur noch vage Bilder hinterlässt. Er massierte seine steifen Arme und sagte sich, dass Träume wenigstens keine Schnittwunden hinterließen.
Ein heftiger Harndrang veranlasste ihn, schnell zum Hinterausgang zu gehen und die Latrine aufzusuchen, die sich wenige Schritte von der Hütte entfernt am Flussufer befand.
Fulminacci hatte Beatrices Weigerung, Nachttöpfe im Haus zu dulden, nie ganz begriffen. Eine merkwürdige Angewohnheit, ja geradezu eine lästige Manie, besonders im Winter, wenn man es mit Kälte und Regen aufnehmen musste, um dringende Bedürfnisse zu verrichten, die man viel schneller und bequemer mit einem entsprechenden Gefäß erledigen konnte.
Beatrice jedoch nahm es äußerst genau mit der Hygiene und erlaubte unter keinen Umständen, dass irgendjemand von dieser Vorschrift abwich.
In einer Ecke ihres Zimmers, verborgen hinter einem Vorhang, stand sogar eine Wanne aus Marmor, die sie Gott weiß woher hatte und in der sie mit befremdlicher Häufigkeit Vollbäder zu nehmen pflegte. Noch nicht einmal die Aristokraten mit ihren feinen Näschen trieben einen solchen Aufwand und überdeckten unangenehme Körpergerüche lieber durch großzügige Verwendung von Parfum.
Beatrice hatte ihm schon öfter Vorträge darüber gehalten, wie wichtig es sei, den Körper und die Kleidung sauber zu halten, um keine Krankheiten zu bekommen, aber der Maler konnte einfach keinen logischen Zusammenhang zwischen Körperhygiene und Gesundheit erkennen.
Er hatte sich sogar bei einigen der vielen Ärzte und Wanderheiler erkundigt, die in der Stadt praktizierten, und alle hatten einhellig ein Ursache-Wirkung-Verhältnis zwischen diesen beiden Dingen ausgeschlossen. Das Auftreten von Krankheiten hing, wie jedermann wusste und wie die zurate gezogenen Doktoren nachdrücklich betonten, mit einem Ungleichgewicht der verschiedenen Körpersäfte zusammen. Auf diesen Einwand hin hatte Beatrice die gelehrten Mediziner bloß als einen Haufen herausgeputzter Dummköpfe bezeichnet.
Diese Gedanken gingen dem Maler durch den Kopf, als er von der Latrine kam und in der Hoffnung auf ein Frühstück ins Haus zurückkehrte.
Die Wahrsagerin bemerkte sein Kommen nicht gleich oder tat möglicherweise auch nur so. Fulminacci ging zur Feuerstelle, wo er ein Stück frisches Brot fand, das er hungrig verschlang.
Nach diesem bescheidenen Frühstück setzte er sich zu Beatrice, die wie üblich mit ihren Tarotkarten beschäftigt war. Er hoffte, dass sie ihm eine Erklärung für die Geschehnisse der vergangenen Nacht geben konnte und etwas über den stummen Riesen wusste, dessen Einschreiten ihn davor bewahrt hatte, sich frühzeitig zu seinen Vorfahren im Jenseits zu gesellen.
Doch Beatrice schien nicht geneigt, ein Gespräch zu beginnen, und konzentrierte sich ganz auf ihre Karten. Sie hatte sie auf dem wackeligen Tischchen ausgebreitet und zu einem geheimnisvollen Muster angeordnet.
Als sie die letzten abgelegt hatte, betrachtete sie forschend die Verteilung der Bilder. Ihr Gesichtsausdruck war ernst und besorgt, und der Maler beobachtete sie schweigend, ohne dass sie sich davon irritieren ließ.
So ging es eine Weile weiter, bis sie die Karten zusammenschob und ihre Anordnung zerstörte.
Beatrice sah ihn an und griff dann wortlos wieder nach dem Stapel, den sie fächerartig vor ihm ausbreitete.
»Zieh eine Karte«, forderte sie ihn auf.
Nach kurzem Zögern wählte Fulminacci eine Tarotkarte und drehte sie um.
»Der Tod!«, rief er aus und warf die Karte auf den Tisch, als hätte ihn ein giftiges Insekt gestochen.
Die Wahrsagerin nahm sie, steckte sie zurück in den Stapel und mischte sorgfältig. Anschließend legte sie die Karten erneut zu einem Fächer aus und ließ ihn ziehen.
Zum zweiten Mal fischte er die Karte heraus, die den Tod darstellte.
Das wiederholte sich noch ein drittes und ein viertes Mal.
Mit einer uralten, Unheil abwehrenden Geste legte der Maler die Hände an den Schritt seiner Hose und versäumte es auch
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