Das Buch der Toten
schwerlich, und Milo hatte Broussard auch sehr bald entdeckt.
Der Polizeichef stand in einer Ecke im unteren linken Viertel des Friedhofs. In der vorletzten Reihe; ein hübsches, schattiges Plätzchen. Er wandte Milo den Rücken zu, hatte die großen, dunklen Pranken hinter seinem Rücken verschränkt und starrte auf einen Grabstein.
Milo ging auf ihn zu. Er versuchte nicht, das Geräusch seiner Schritte zu dämpfen. Broussard drehte sich nicht um.
Als Milo an dem Grab anlangte, fragte der Chef: »Was hat Sie so lange aufgehalten?«
Der Stein, der Broussards Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatte, war aus schwarzgrauem Granit mit lachsfarbenem Rand und mit einem säuberlich gemeißelten Saum aus kleinen Gänseblümchen.
Janie Marie Ingalls MÖGE SIE DEN EWIGEN FRIEDEN FINDEN Die Daten ihres Eintritts in diese Welt und ihres gewaltsamen Abgangs umfassten eine Lebensspanne von sechzehn Jahren und zehn Monaten. Über Janies Namen war ein winziger, lächelnder Teddybär eingemeißelt.
In der abgeschrägten Vertiefung, die das linke Knopfauge des Teddys bildete, hatte sich eine graublaue Wacholderbeere eingenistet. John G. Broussard bückte sich, zupfte die Beere aus dem Grabstein und steckte sie in seine Jackentasche. Der Anzug war ein Zweireiher, blau mit rotbraunen Nadelstreifen. Betonte Taille, hohe Seitenschlitze, echte Knopflöcher an den Ärmeln. Sieh mal, Mama, alles maßgefertigt! Milo musste an Broussards edlen Zwirn und seine makellos reine Haut am Tag der Vernehmung vor zwanzig Jahren denken.
Das tausendste Mal, dass er an diesen Tag gedacht hatte.
Auch aus der Nähe betrachtet hatte der Polizeichef sich nicht sehr verändert. Ein paar graue Haare, ein paar Fältchen an den Mundwinkeln, aber immer noch dieser blühende Teint. Und seine riesigen Hände sahen aus, als könne er damit Nüsse knacken.
Milo fragte: »Kommen Sie öfter hierher?«
»Wenn ich in etwas investiere, möchte ich auch ab und zu nach dem Rechten sehen.«
»Investieren?«
»Ich habe den Grabstein gekauft, Detective. Der Vater hat sich nicht darum gekümmert. Sie wäre sonst in einem Armengrab gelandet.«
»Ein Sühneopfer«, sagte Milo.
Broussard zuckte nicht mit der Wimper. Dann sagte er:
»Detective Sturgis, ich werde sie nach Abhörvorrichtungen absuchen, also entspannen Sie sich.«
»Sicher«, antwortete Milo. Das »Ja, Sir«, konnte er sich in letzter Sekunde noch verkneifen. Ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, in Broussard Gegenwart kam er sich immer klein vor. Er straffte sich, als Broussard sich zu ihm umdrehte und ihn fachmännisch von oben bis unten abtastete.
Das war kaum verwunderlich. Als Ex-IA-Mann musste er sich ja mit Wanzen auskennen.
Nachdem er fertig war, ließ Broussard die Hände sinken und sah Milo in die Augen. »Also, was haben Sie mir zu sagen?«
»Ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas zu erzählen hätten.« Broussards Lippen bewegten sich nicht, seine Augen blitzten amüsiert. »Hätten Sie gerne eine Art Beichte gehört?«
»Wenn es da etwas gibt, was Sie beschäftigt«, sagte Milo.
»Und was beschäftigt Sie, Detective?«
»Ich weiß Bescheid über Willie Burns.«
»Tatsächlich?«
»Aus den Grundsteuerakten geht hervor, dass das Haus in der 156th Street, wo er sich versteckt hatte und wo Ihr Partner Poulsenn dran glauben musste, der Mutter Ihrer Frau gehörte. An dem Abend, als Willie Janie Ingalls zu der Party mitnahm, fuhr er einen geliehenen Wagen. Einen nagelneuen weißen Cadillac, tadellos gepflegt. Ihre Frau steht auf diese Marke, in den letzten zwanzig Jahren hatte sie sechs Caddies, allesamt weiß. Einschließlich des Wagens, mit dem sie in diesem Augenblick unterwegs ist.«
Broussard bückte sich und wischte den Schmutz von Janie Ingalls' Grabstein.
»Burns war mit Ihnen verwandt«, sagte Milo.
»War?«, fragte Broussard.
»Allerdings ›war‹. Es ist gestern Abend alles so abgelaufen, wie Sie es inszeniert hatten.«
Broussard richtete sich auf. »Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz. Auch nicht für Familienmitglieder.«
»Was war er, ein Cousin?«
»Ein Cousin ersten Grades meiner Frau«, erwiderte der Chef.
»Der Sohn ihres ältesten Bruders. Seine Geschwister waren alle anständig. In ihrer Familie sind alle aufs College gegangen oder haben ein Handwerk gelernt. Willie war der Jüngste. Bei ihm ist irgendwas schiefgelaufen.«
»Das kommt eben manchmal vor«, sagte Milo.
»Jetzt reden Sie schon wie Ihr Psycho-Freund.«
»Das färbt ab.«
»Wirklich?«,
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