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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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nun kollabierte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Russlands Wirtschaft.
    Wie reagierten die Finnen auf das Desaster? Nein, sie grämten sich nicht, sie liefen nicht vor Angst auf die Straße, sie veranstalteten keine Angst- und Betroffenheitstalkshows. Sie begannen einen harten, fairen, pragmatischen Diskurs über die Zukunft ihres Landes, an dem viele Bürger aktiv teilnahmen, in Gemeinden, Bürgerversammlungen, Medienforen, im Fernsehen und im Parlament. Und dann handelten sie auf allen gesellschaftlichen Ebenen in konzertierter Aktion.
    Finnland ist ein merkwürdiges Land. Die Temperaturunterschiede eines Jahres können bis zu 80 Grad Celsius betragen. Finnen verfügen über eine hartnäckige Arbeitsmoral, gepaart mit Neugier und Weiterbildungswillen, dazu kommt eine ausgeprägte sozialstaatliche Ader, die aber in einer ebenso ausgeprägten Bürgergesellschaft ankert. Dass Frauen so gut arbeiten können und müssen wie Männer, war in dem waldreichen Land an der Frostgrenze nie eine Frage – männliche Patriarchen kann man sich unter solchen Lebensbedingungen nicht erlauben. Die Bildungswege stehen den Frauen schon lange offen, ebenso wie die Karrierewege in Politik und Wirtschaft.
    Die Finnen haben die höchste Selbstmordrate Europas, gehören aber gleichzeitig zu den glücklichsten Nationen der Welt. Wenn es darum geht, Emotionen zu zeigen, werden sie von einem heiligen Ernst erfasst. Wer jemals das Tangofestival von Senjanöki besucht hat, weiß, wie nordische Melancholie aussieht. Ernste Paare in pinkfarbenen Plissee-Kleidungsstücken, die an die ferias südamerikanischer Länder erinnern, zelebrieren stundenlang erotisch-leidenschaftliche Drehungen und Verrenkungen. Das Publikum ist frenetisch, herzzerreißend wohlwollend auch gegenüber den ganz schrägen Leistungen; Hauptsache das Herz spricht. Finnen feiern unglaublich viele Feste, saufen bisweilen zu viel, aber Ausgleich dazu finden sie massenhaft in naturnahen Sportarten wie Jogging, Skilanglauf, Schwimmen, Rudern und
Radfahren. Kaum ein Finne macht keinen Ausdauersport – wozu er von Krankenkassen, aber auch Nachbarn, Kollegen, Lehrern sanft genötigt wird.
    Finnland ist eine Kulturnation, in der nicht nur die höheren Schichten gebildet sind. Das allgemein hohe Bildungsniveau führt zu starkem Interesse am Theater oder der Oper, an Literatur oder Musik. Der Anteil der registrierten Bibliotheksbenutzer ist Weltrekord, er lag in den neunziger Jahren bei rund der Hälfte der Gesamtbevölkerung! 1 In den meisten Industriestaaten verbringen die Menschen immer mehr Zeit vor dem Fernseher. In Finnland wurde dagegen stets mehr Zeitung gelesen. Heute hat das Land die höchste aktive Nutzungsrate von Breitband-Internet. 71 Prozent der 15- bis 74-jährigen Finnen nutzen das Internet regelmäßig, bei den unter 40-Jährigen sind es fast 100 Prozent. Bereits 1987 schloss Finnland als erstes europäisches Land seine Universitäten an das Internet an.
    Finnen sind heimattreu und kosmopolitisch zugleich, nicht nur weil finnische Firmen wie Nokia heute auf Weltniveau agieren, sondern weil Englisch eine allgegenwärtige Zweitsprache ist. Es gibt nur wenige synchronisierte Filme und nicht allzu viele Übersetzungen internationaler Literatur ins Finnische.
    In der großen Krise von 1993 wurde der Sozialdemokrat Paavo Lipponen Premierminister. Und bildete die sogenannte Regenbogenregierung, eine Allparteienkoalition, die sowohl Grüne wie Sozialisten und die Konservativen integrierte. Damit konnte das Parlament schnell und entschlossen reagieren. Was folgte, war praktisch in allen Schritten vom Konsens der finnischen Bevölkerung, einschließlich der Gewerkschaften, getragen. Eine eiserne Sparpolitik, die Abwertung der Währung, drastische Privatisierungen, und enorme staatliche Investitionen in die Zukunftssektoren Forschung und Bildung.
    So kamen die Finnen aus der Krise: Sie erfanden praktisch ein neues Gesellschaftsmodell. Eine Wissensökonomie mit hoher Bürgerbeteiligung und staatlicher Dominanz. Im finnischen
Schulsystem gibt es keine Klassenwiederholungen. Es gibt auch keine Privatschulen und keine Schulgebühren, aber dafür Gratismahlzeiten in jeder Ganztagsgesamtschule. Nach der Pflichtschule gehen 94 Prozent (!) in das dreijährige allgemein- oder berufsbildende Gymnasium – über 90 Prozent der jungen Generation machen ein Abitur. Jede Schule hat völlig autonome Möglichkeiten der Pädagogik und Unterrichtsgestaltung, Lehrer sind keine Beamte, sondern

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