Das dunkle Universum 3 - Im Sog der Zeit
Minute starrten Edeard und Bise sich schweigend an. Nichts schien zu passieren. Gelächter wurde laut unter denen, die auf den Zinnen standen; Pfiffe und Spottrufe mischten sich darunter.
Plötzlich gaben die riesigen, eisenbeschlagenen Tore vor Edeard ein ohrenbetäubendes Krachen von sich. Menschen keuchten auf und beugten sich über die Zinnen, um zu sehen, was geschah. Die Tore schienen unbeschädigt zu sein.
Mit einem Mal begann Bises abgeschirmter Geist hell vor Entsetzen zu leuchten. Die Kante des Dachs veränderte sich genau an der Stelle, wo es sich rundete und sanft in die Turmmauern überging. Sie lockerte sich und zerfiel, verwandelte sich in feinen Staub. In kleinen Rinnsalen rieselte die Substanz an der Mauer hinab zu Boden. Die Rinnsale wurden zu Bächen, überschwemmten das elegante gelb-grüne Muster. Bestürzt starrte Bise nach unten, als die Flut über seine Stiefel zu schwappen drohte.
»Wenn ich Ihr wäre«, riet ihm Edeard in ruhigem Ton, »würde ich da runterkommen, solange Ihr noch Treppen habt.«
Die Tore ließen ein weiteres durchdringendes Kratzen vernehmen. Die starken Scharnierbolzen, die mehr als vierzig Zentimeter in die Mauersubstanz hineingeschlagen worden waren, wurden herausgetrieben. Der Abstoßungsprozess, mit dem die Stadt menschliche Fixierungen im Laufe der Zeit zurückdrängte, beschleunigte sich. Aus dem Innern des Hauses war eine Folge von Kreischgeräuschen und metallischem Ächzen zu hören, als sämtliche Türen aus ihren Rahmen gedrückt wurden. Bilder fielen von den Wänden, als die Nägel, an denen sie aufgehängt waren, herausflogen. Regale in den Vorratskammern und Abstellräumen krachten zu Boden und verstreuten ihren Inhalt.
Bise wirbelte herum und rannte zum Treppenhaus.
Auf jeder Etage des Domizils flossen die Badebecken über. Die orangenen Beleuchtungssegmente verdunkelten sich bis zum Erlöschen. Kristallfenster zerplatzten wie Blasen. Türen knallten auf die Flure. Dann begannen die soliden Wände zusammenzulaufen, während sie langsam ihre Dichte verloren, transformierten sich in eine vertikale Flut aus flüssigem Staub.
Die Familie Diroal und all ihre Bediensteten hetzten zu den Treppen. Ge-Schimpansen und -Äffchen sowie naturgeschaffene Katzen flitzten an ihnen vorbei und vervollständigten das Chaos in dem dunklen Treppenhaus.
Bise hatte es gerade den halben Weg bis zum sechsten Stock hinunter geschafft, als sich das Dach endgültig auflöste. Helles Sonnenlicht flutete in die freigelegten Zimmer des Obergeschosses und offenbarte die allmählich unter einer Kaskade aus Staub versinkenden Teppiche und schwankenden Möbel. Der Distriktmeister stöhnte entsetzt auf und rannte schneller. Unter seinen stampfenden Füßen konnte er spüren, wie die Oberfläche der gefährlich gewundenen Treppe an Festigkeit verlor.
Eines nach dem anderen bogen sich die drei Tore in der äußeren Mauer aus der Justierung, als sich ihre Befestigungen endgültig lösten. Mit einiger Grazie schwenkten sie herum und kippten auf den Platz hinaus. Niemand stand zu diesem Zeitpunkt mehr auf den Zinnen, um das majestätische Schauspiel zu beobachten, jedermann stürmte die Treppen hinunter in dem verzweifelten Versuch, den Innenhof und damit die Sicherheit zu erreichen.
Es dauerte fast dreißig Minuten, bis das ganze Gebäude weggeschmolzen war, denn es war ein gewaltiger Bau, und nicht einmal die Stadt war imstande, seine Masse schneller zu absorbieren.
Inzwischen hatten sich die Konstablertrupps, die Edeard angefordert hatte, auf dem Platz eingefunden und einen fünf Reihen starken Kreis um Bises dahinschwindenden herrschaftlichen Wohnsitz gebildet. Unter ihnen befand sich auch Captain Ronark. Er salutierte vor dem Waterwalker, ebenso wie die Sergeanten. Sodann nahmen sie seinen Befehl entgegen und machten sich daran, ihre Männer seinen Wünschen gemäß zu formieren.
Schlussendlich, nachdem auch die letzten Mauerstümpfe fortgespült waren, war das Areal, auf dem das Distriktmeisterdomizil gestanden hatte, auf einen kleinen Staubtümpel reduziert. Er verhärtete sich und wurde fest wie Stein. Auf ihm türmte sich ein Berg von zertrümmerten Möbeln und Kleidern, Vorhängen und Teppichen, Laken, Büchern, Weinflaschen, kaputtem Geschirr und verbogenem Besteck – all der Tand, den eine ungeheuer wohlhabende Familie im Laufe von zwei Jahrtausenden nun einmal ansammelte. Um diesen Berg herum standen die Überlebenden, düster und empört, doch vor allem voller Angst vor
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