Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
spähte ihr über die Schulter. »Das Meer.«
»Nein, das ist unmöglich«, erklärte sie ihm. »In der Mitte eines Labyrinths kann schließlich kein Meer sein.«
Stefano runzelte die Stirn und schob trotzig die Unterlippe vor. »Aber das hat sie bestimmt gewollt«, sagte er.
Was mochte nun Catarinas Wunsch gewesen sein? Wonach hatte sie hier gesucht? Aurelia lächelte Stefano zu. Sein dichtes Haar fiel ihm wie ein Seidenvorhang in die Stirn. Ganz der Vater. »Wir werden einen kleinen Teich anlegen«, sagte sie. Das könnte mit dem Blau gemeint sein.
Stefano war noch nicht überzeugt.
»Mit einer Seerose, so leuchtend gelb wie die Sonne.« Das Gold.
»Aber …«
»Und Fische.«
»Fische?« Er strahlte übers ganze Gesicht.
»In allen Farben des Regenbogens.« Aurelia nickte. »Und wir stellen die Bank aus Olivenholz auf, die deine Mutter so gemocht hat. Dann kannst du, wann immer du Lust hast, herkommen und hier sitzen.« Ja, das hätte Catarina sicher gefallen.
»Ein Teich?«, hatte Enrico gestöhnt. Aber er hatte ihn in jenem Herbst selbst angelegt, eine Pumpe installiert, mit Carlos Hilfe die elektrischen Leitungen verlegt und war sogar dabei gewesen, als sie die Fische aussuchten und ihnen Namen gaben.
»Ein paar englische und ein paar italienische Namen«, forderte Stefano und deutete auf einen Fisch. »Johnnie«, sagte er. »Und Renato.«
»Jane«, hatte Aurelia ihrerseits vorgeschlagen. »Und der mit den schwarzen Flossen könnte Diana heißen.«
»Ihr seid komplett verrückt, alle beide«, lautete Enricos unverblümter Kommentar.
Zwei Jahre hatte es gedauert, den Miniatur-Irrgarten mit den drei Spiralen zu pflanzen, die zu dem Mittelpunkt, dem Teich, führten. Zum Schluss lud Enrico mit regloser Miene die Bank aus Olivenholz auf den Schubkarren.
Elena erfüllte die Vollendung des Labyrinths mit Begeisterung. »Catarina hätte sich so gefreut!« Sie klatschte in die Hände. »Früher gab es in unserer Familie einen besonderen …« Sie stockte. »Sicher hast du kein Interesse an diesen alten Geschichten.«
Aurelia umarmte sie. Sie liebte alte Geschichten. »Erzähl ruhig weiter«, bat sie Elena.
Elenas Blick verschleierte sich. »Catarina hat es nie leicht gehabt. Sie hat sehr an ihrem Bruder gehangen. Er war für sie wie ein Vater. Sie hat ihn abgöttisch geliebt.«
»Was ist mit ihm geschehen?« Aurelia drückte Elenas Hand. Es tat ihr weh, sie so traurig zu sehen.
»Er ist auf See umgekommen.« Ihre Stimme wurde energisch. Es war ganz offensichtlich, dass sie nicht darüber sprechen wollte. »Und hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.«
Geheimnis? Aurelia war fasziniert. Doch da Elena sich eine Träne von der Wange wischte, beschloss sie, nicht weiterzufragen. So viele Geheimnisse!, dachte sie.
Cari merkte, dass ihre Großmutter ihren Gedanken nachhing. »Wohnt Stefano immer noch in La Sirena ?«, fragte sie. Er musste Anfang dreißig sein, aber sie wusste von Marco, dass unverheiratete Italiener gern so lange wie möglich zu Hause lebten – oder zumindest erwarteten das ihre liebenden Mamas von ihnen.
»Eigentlich nicht«, erwiderte Aurelia. »Ich hoffe, du hast bald Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Er ist viel unterwegs, mal hier, mal dort. Er hat oft geschäftlich in England zu tun.« Sie hielt inne und führte Cari noch einmal nach links und bog einen Oleanderbusch zur Seite, damit Cari vorbeigehen konnte. »Übrigens war er erst vor kurzem in Brighton.«
»Wirklich?« Was für ein Zufall! Cari brannte darauf, ihm zu begegnen. Da Aurelia ihn praktisch großgezogen hatte, wäre er doch so etwas wie ein Bruder für sie. Familie und noch mehr Familie – sie konnte gar nicht genug davon bekommen. Am liebsten hätte sie all diese neuen Familienmitglieder in die Arme geschlossen und nie mehr losgelassen.
»Wer ist das?« Cari deutete auf eine Skulptur, die neben einer Bank aus gebogenem Holz stand. Es war die Büste eines verwegenen jungen Mannes, die aus körnigem, grün-grau gemasertem Stein gehauen war.
Aurelia kicherte. »Das ist Hesters südländischer Matrose.«
»Wow!« Cari grinste. »Glaubst du, das ist der Italiener, von dem sie gesprochen hat?«
»Antonio?« Aurelia fuhr mit den Fingern die Linie seiner hohen Wangenknochen nach. »Ich weiß nicht. Gut möglich.« Sie wechselten einen Blick und setzten sich.
Cari schloss die Augen und ließ den Kopf gegen die Rückenlehne der Bank sinken. Frieden durchströmte sie. Sie schwiegen beide, nahmen die Atmosphäre des
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