Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Labyrinths in sich auf, die für Cari überhaupt nichts Verstörendes an sich hatte, jedenfalls nicht im Moment. Sie glich keineswegs der Stimmung auf den Bildern, die ihre Großmutter gemalt hatte. Zumindest jetzt nicht.
»Erzähl mir von Tasmin!«, forderte Aurelia sie nach einer Weile auf, als hätte sie schon den ganzen Tag Kraft für diese Bitte gesammelt. »Ich wollte immer wissen, was sie aus ihrem Leben gemacht hat.«
»Sie war Fotografin.«
Schweigend hörte Aurelia zu, als Cari von ihrem gemeinsamen Leben, von Tasmins Arbeit, von der Galerie und Edward erzählte.
»Ich bin froh, dass sie einen so guten Freund hatte«, bemerkte Aurelia.
»Und er hat sie auch in ihrer Arbeit als Fotografin ermutigt, wenngleich sie vieles davon unter Verschluss gehalten hat. Wir waren sehr erstaunt, als wir ihre Sachen durchgegangen sind.«
Aurelia lächelte und drückte Caris Arm. »Sie hatte schon immer Geheimnisse«, flüsterte sie.
Cari berichtete ihr von der Ausstellung. Von Tasmins Projekt »Die anderen Straßen von Brighton«. Die Sonne schien heiß auf sie herab, doch zum Glück war die Hecke hoch genug, um ein wenig Schatten zu bieten, und vom Meer wehte eine kühle Brise herauf. Cari ließ den Wind über ihr Gesicht streichen. Sie empfand die reine Glückseligkeit. Der süße, schwere Duft der gelb-weißen Jasminblüten hing in der Luft. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass Aurelia ihr den Ort gezeigt hatte, den sie aufsuchte, um nachzudenken und allein zu sein.
»Ich freue mich, dass sie sich dafür entschieden hat«, sagte Aurelia schließlich. Neugierig sah sie Cari an. »Was hat sie dir von mir erzählt?«
»Sehr wenig.« Cari wollte sie nicht belügen, aber auch nicht verletzen. Die Wahrheit – dass Tasmin ihr gesagt hatte, Aurelia sei tot – brachte sie einfach nicht übers Herz.
»Ein Kind allein großziehen zu müssen …« Aurelia streichelte Caris Hand. »Ich wünschte, ich hätte davon gewusst. Ich wünschte, ich wäre nach England zurückgekehrt. Nur …« Ihre Stimme verlor sich. Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Cari, du ahnst nicht, wie viel es mir bedeutet, dich hierzuhaben. Komm!« Sie stand auf und lotste Cari durch eine weitere Spirale des Labyrinths. »Diese Spirale führt zum Meer«, erklärte sie.
Cari folgte ihr, völlig eingenommen vom Zauber des Labyrinths. In England wäre heute ein grauer, stürmischer Tag. Hier jedoch … Ihr erschien dieser Ort wie das Paradies.
»Jeden Tag gehe ich an den Strand und male«, sagte Aurelia.
Innerhalb weniger Minuten verließen sie die Spirale durch ein von Glyzinien umranktes Tor. Dahinter führten ausgetretene Steinstufen hinunter in die Bucht. Aurelia rückte ihren breitkrempigen Sonnenhut zurecht und ging wieder voran. »Ich mache oft einen Spaziergang durch den Park oder ins Dorf und setze mich dann hier ins Labyrinth.«
In Caris Ohren klang das nach einem ziemlich angenehmen Leben. Sie schaute sich um. Die Bucht war nicht sonderlich groß und ziemlich steinig, aber in der Nähe des Wassers wichen die Kiesel weiß-goldenem Sand. Das Meer mit seinen kleinen schaumgekrönten Wellen wirkte kühl und einladend. In der Ferne ragten einige kahle schiefergraue Felsen aus dem Wasser, an denen sich die Wellen brachen, und etwas weiter die Küste entlang entdeckte sie die rosa-beige getünchte Kirche auf der Landzunge von Tellaro – eine Landschaft, an der man sich berauschen konnte. Sogar das Licht war hier anders. Klarer und irgendwie heller als in England.
»Und du verbringst Zeit mit Enrico«, sagte Cari, denn Aurelia hatte den Eindruck vermittelt, ihr Leben sei ziemlich einsam, obgleich sie im Paradies lebte.
»Enrico … Ach!« Aurelia schüttelte den Kopf. »Damit möchte ich dich nicht langweilen.«
Cari hätte jedoch nichts dagegen gehabt. Im Gegenteil, sie wollte alles wissen. Nach all den Jahren der Unwissenheit gierte sie geradezu nach Informationen. Darüber hinaus gefiel ihr der Gedanke nicht, ihre Großmutter könne unglücklich sein. Nun, da sie Aurelia gefunden hatte, wünschte sie sich ein Happyend. Mit etwas anderem würde sie sich nicht zufriedengeben.
Sie gingen zum Wasser. Vermutlich wegen des Windes war die Strömung erstaunlich stark. Cari streifte die Sandalen ab und quietschte, als das Wasser um ihre Füße spülte.
Aurelia lächelte. »Aber eine Familie zu haben …« Es klang wehmütig. Sie schlüpfte ebenfalls aus den Schuhen, raffte ihr langes geblümtes Kleid und lief ins Wasser. Nach wenigen
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