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Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)

Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)

Titel: Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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Schritten reichte es ihr bereits bis zu den Waden. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen, und sie wandte sich um. »Wann musst du zurück nach England, Liebes?«
    Darüber hatte Cari noch gar nicht nachgedacht. Natürlich würde ihr Geld nicht ewig reichen, und früher oder später musste sie wegen ihres Brautstudios sowieso zurück, wollte sie nicht ihren Ruf und ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Und dann gab es ja auch noch Dan … Sie musste ihn anrufen, unbedingt, er würde sich Sorgen machen. Sie konnte es nicht länger hinausschieben. Er hatte ihr mehrere E-Mails geschrieben – sie hatte ihren Maileingang in einem Internet-Café in Lucca überprüft, einen Tag, bevor sie nach Pisa gefahren war –, doch sie hatte ihm nur sehr knapp geantwortet. Und das war nun schon einige Tage her. Sie zählte nach. Beinahe vier Tage, um genau zu sein. Aber was sollte sie sagen, wenn sie ihn anrief? Ich habe zufällig den geheimnisvollen Marco getroffen, und er hat mich zu meiner Großmutter gebracht. Was würde sich Dan da zusammenreimen? Sie musste einen Schlussstrich ziehen. Es wäre sonst unfair.
    Sie bemerkte, dass sie Aurelia die Antwort schuldig geblieben war. »In ein oder zwei Wochen«, entgegnete sie. »Vielleicht ein bisschen später, je nachdem, wie lange mein Geld reicht.«
    Aurelia watete durch das Wasser auf sie zu. Sie wirkte fast wie ein kleines Mädchen, wie sie da im Meer planschte, mit der einen Hand das Kleid bis zu den Knien gerafft, mit der anderen den Hut festhaltend, der im Wind flatterte. »Dann komm doch nach La Sirena , als unser Gast«, schlug sie vor.
    »Oh, aber ich …« Cari hoffte, es würde nicht so wirken, als hätte sie ihr einen Wink mit dem Zaunpfahl geben wollen.
    »Keine Widerrede!« Aurelia klang entschlossen. »Du bleibst bei uns, und zwar solange du möchtest.«
    Arm in Arm schlenderten sie wieder den Strand hinauf. Ihre Großmutter hatte das Kleid losgelassen, sodass es an ihren nassen Waden klebte.
    »Sehr gern, vielen Dank.« Aber Caris Neugier war noch nicht vollständig befriedigt. »Wohin führt die dritte Spirale?«, fragte sie, während sie die Steinstufen hinaufstiegen.
    Aurelia öffnete das Tor. »Zu einem weiteren Tor, das genauso aussieht wie dieses hier«, meinte sie. »Dahinter liegt die Straße ins Dorf.«
    Aha. Ein Pfad zur Villa, einer zum Meer, und einer …
    »Um zu fliehen«, schloss Aurelia. »Dahinter liegt die große weite Welt.«
    Cari konnte nicht schlafen. Sie konnte nicht schlafen, weil sich ihre Gedanken wie ein Mühlrad im Kopf drehten … Aurelia, Tasmin … und natürlich Marco. Wenn sie die Augen schloss, erschien sein Gesicht vor ihr, dunkel und rätselhaft. Unmöglich, etwas daraus zu lesen. Sein Lächeln schwebte in den Schatten ihres Zimmers. Seine Augen wachten über sie oder blickten tief in ihr Inneres. Morgen würde sie Lucca verlassen. Würde sie morgen auch Marco sehen? Sie wusste es nicht. Sie wünschte sich nur, er würde nicht länger in ihrem Kopf herumspuken.
    Cari gab vorerst den Gedanken ans Einschlafen auf und griff nach Tasmins Tagebuch. Jede gefundene Antwort barg eine neue Frage in sich. Warum, warum, warum?
    Außenstehende sind der Meinung, sie hätten alles verloren. Aber diese Menschen sind etwas Besonderes. Natürlich haben sie manches verloren – sie unterwerfen sich nicht mehr der Stechuhr, sind nicht versessen auf materielle Dinge, auf Dinge, die Körper und Seele nicht wirklich brauchen. Alles, auf das wir versessen sind, wir mit unseren Häusern, unseren Geschirrspülmaschinen und teuren Kaffeemaschinen, alles, was unser Leben bestimmt und kontrolliert – das haben sie verloren.
    Wir halten uns für frei. Aber sie haben mehr Freiheit als wir. Diese Menschen auf den Straßen, für die es einzig und allein ums Überleben geht.
    Warum hatte sie nichts davon mitbekommen? Sie hatte das Tagebuch auf der Suche nach diesem Abschnitt durchgeblättert. Sie fühlte sich getäuscht von Tasmin, die all diese Gedanken für sich behalten und nur ihrem Tagebuch anvertraut hatte. Warum hatte sie nichts von den Gefühlen ihrer Mutter gewusst? Warum hatte Tasmin nicht darüber gesprochen, verflixt noch mal?
    Ich möchte all das einfangen: diese Trostlosigkeit, das grundlegende Bedürfnis jener, die all den Mist, mit dem und für den wir leben, hinter sich gelassen haben. Ich möchte die Blöße in ihren Augen sehen. Verzweiflung, ja. Schmerz, ja. Aber noch viel mehr. Sie wissen so viel mehr über das Leben – Dinge, die wir uns

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