Das Erbstueck
sie ihn, und dazu passte Essig eben nicht. Er hatte auch auf dem Zimmer Wein, und am Ende erzählte sie ihm ihre gesamte Lebensgeschichte. Na ja, von dem Tag an, an dem sie Ruben kennen gelernt hatte. Über ihre Eltern wollte sie nichts sagen. Und sie übersprang auch die Seitengasse in Odense und die blutigen Zeitungen und das gestohlene Geld. Sie übersprang außerdem die beiden anderen Abtreibungen, die um einiges weniger schmerzhaft abgelaufen waren, die allerdings auch einen himmelhohen Preis gekostet hatten. Ihre gesamten Ersparnisse waren dabei draufgegangen, aber sie hatte in der Wohnung eines jungen Arztes in einem Himmelbett liegen
dürfen und Morphium bekommen, bis alles vorüber war. Danach hatte sie nicht mehr gespart. Wann immer sie fünf Öre beiseite legte, stellte sie sich vor, die seien für die nächste Abtreibung, und damit hatte sie das Gefühl, ihr Schicksal herauszufordern. Die letzte war ja schon lange her. Die Abtreibungen hatten sie aller Wahrscheinlichkeit nach steril gemacht. Und das war doch ein Geschenk Gottes, denn was zum Henker sollte sie mit einem Kind? Aber über das alles sagte sie kein Wort. Stattdessen schmückte sie den Alltag bei Trupp Sule aus, und Rudi war fasziniert. Sie teilten eine Zigarette und tranken aus der Flasche.
Um fünf Uhr morgens öffnete er einige riesige Koffer, die in einer Zimmerecke standen, und packte seine in weiches Leinen gewickelte Fotoausrüstung aus. Splitternackt schraubte er dann Stativ und Kamera und Leitungen und andere kleine Geräte zusammen, während Malie lachend und rauchend im Bett lag.
»Bald wird die Sonne durch das Fenster scheinen«, erklärte er eifrig. »Sie weckt mich jeden Morgen viel zu früh, aber heute wird sie mit Freude entgegengenommen . Du hast doch nichts dagegen, dass ich dich nackt fotografiere?«
»Nein, spinnst du? Das ist doch Kunst, Rudi. Und dieses Bild da mit der Nackten, die gebeugt vor den drei in den schwarzen Kleidern steht, ist fantastisch.«
»Das ist vor fünf, sechs Jahren aufgenommen worden. Es gef ällt vielen.«
»Kennst du sie gut? Die Nackte?«
»Marta ist Tänzerin. Sie ist auch ein tüchtiges Modell. Du kannst so ein Bild haben, wenn du willst.«
Das wollte Malie. Sie wollte alles. Obwohl er einen wahnwitzigen Anblick bot, als er dort mit Kopf und Nacken unter dem schwarzen Kameratuch stand, unter dem sein nackter Leib zu sehen war. Sie versuchte, ihr Gesicht in ernste, sehnsuchtsvolle Falten zu legen, wie er es sich wünschte. Sie hielt ihr Gesicht und die eine dramatisch verrenkte Schulter in Richtung des Fensters und der dottergelben Morgensonne. Er fotografierte zu ihrem
Schoß hin, von unten aufwärts. Aber sie sollte ihre Oberschenkel geschlossen halten. Ab und zu sprang er vor und arrangierte Decken und Kissen um sie herum. Weinflasche und Zigarette wollte er nicht auf dem Bild haben, und das verstand sie gut, es wäre vulgär gewesen. Er bürstete auch ihre Haare, und sie durfte sich nicht bewegen. Er sagte, er hätte die Haare gern etwas länger gehabt.
»Alle mögen meine Locken«, sagte sie.
»Später werde ich sie auch mögen«, sagte er. »Aber dem Bild zuliebe könnten sie ruhig länger sein.«
Während die Sonne höher stieg und den Fensterrahmen verließ, erzählte er von Berlin: »Wir kommen am frühen Morgen im Leerter Bahnhof an, und dann schlendern wir an der Spree entlang in die Innenstadt und werfen Kieselsteine ins Wasser. Berlin ist eine wunderschöne Stadt, so sauber, alles ist so sauber. Breite Straßen, Bäume, überall Statuen und Springbrunnen. Und die Stadt ist hochmodern. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass überall etwas los ist. Die Luft ist voller Straßenbahnleitungen, und die Straßenbahnen fahren schon am frühen Morgen, und an den Mauern hängen Neonschilder, die leuchten wie Weihnachtsschmuck, und es gibt gelbe Busse und grüne Droschken mit Fahrern mit weißen Hüten. Wir werden Unter den Linden umhergehen, du und ich, und uns küssen, sodass die Leute hinter uns herblicken, und wir gehen zum Kurfürstendamm und setzen uns ins Romanische Café und trinken Champagner und saugen uns gegenseitig an den Fingern, oder wir picknicken im Grunewald und baden im Wannsee. Ich habe auch ein Häuschen draußen in der Jungfernheide, wo wir ganz allein sein können. Ein großes Bett. Wein. Mürbes Fleisch von einem Bauern, den ich kenne. Wildschwein, hast du schon mal Wildschwein gegessen? In Grünkohl gekocht ... ich kann kochen, ich werde dich bewirten, du
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