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Das erste Buch der Traeume

Das erste Buch der Traeume

Titel: Das erste Buch der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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zwischen den Bäumen hindurchführte. Die Sonne fiel durch das Herbstlaub und warf goldene Kringel auf den Boden.
    »Das hat mir gefehlt«, sagte Henry unvermittelt und räusperte sich. » Du hast mir gefehlt.«
    Wenn mich in diesem Moment eines von Mias Wurfgeschossen getroffen hätte, ich hätte es nicht mal gespürt. Ich blieb mitten auf dem Weg stehen. Henry drehte sich zu mir um und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
    »Ohne dich hat es irgendwie gar keinen Spaß gemacht zu träumen«, sagte er. Und dann beugte er sich vor und küsste mich vorsichtig auf den Mund.
    Für ein paar Sekunden vergaß ich zu atmen, dann spürte ich, wie sich meine Arme ganz ohne mein Zutun hoben und um seinen Hals schlangen, um ihn näher an mich zu ziehen. Jetzt küssten wir uns nicht länger vorsichtig, sondern sehr viel intensiver. Henry legte eine Hand in meine Taille, die andere umfasste meinen Hinterkopf und grub sich zärtlich in mein Haar. Ich schloss die Augen. Genau so mussten sich Küsse anfühlen, da war ich mir sicher. Mein ganzer Körper begann zu prickeln, als er mich plötzlich losließ und ein Stück von sich wegschob.
    »Wie gesagt, ich habe dich vermisst«, sagte er leise und griff wieder nach meiner Hand, um mich weiterzuziehen.
    Ich konnte es nicht fassen, wie er einfach so weitergehen konnte, als wäre nichts geschehen, während ich Mühe hatte, überhaupt aufrecht stehen zu bleiben. Es war, als hätte der Kuss die Knochen in meinen Beinen in Lakritzstangen verwandelt. Sehr weiches Lakritz. Glücklicherweise wollte Henry nur bis zur nächsten Bank, ein paar Meter entfernt, und bis dahin schaffte ich es gerade noch so. Erleichtert ließ ich mich neben ihn fallen.
    Er legte seinen Arm hinter mir auf der Banklehne ab. »Fast so eine schöne Aussicht wie in Berkeley, oder?«, sagte er und zeigte mit der anderen Hand den Hügel hinunter.
    »Mmmmh«, machte ich zustimmend. »Wir haben schon an so vielen Orten auf der Welt gewohnt – dieser hier ist wirklich nicht der Schlechteste.«
    »Besser als Oberammergau?«, fragte er.
    »Was?« Ich rückte erschrocken von ihm ab.
    Er lachte. »Ob er aber über Oberammergau oder aber über Unterammergau oder ob er überhaupt nicht kommt, ist nicht gewiss«, sagte er auf Deutsch und lachte. »Sind deutsche Volkslieder eigentlich immer solche Zungenbrecher? Traumlottie wollte, dass ich es singe, aber dann hat sie es doch gelten lassen. Hey, sieh mich nicht so entsetzt an, Liv – hast du wirklich geglaubt, ich würde das nicht herausfinden? Nachdem du mir so viele Hilfestellungen gegeben hast? Heut’ kommt der Hans zu mir, freut sich die Lies’ … Hast du dieses lustige Video auf Youtube gesehen, von dem Typen mit der Lederhose und der Mandoline? Ich hab mich weggeschmissen …«
    »Du kanntest die Antwort also schon die ganze Zeit?«, fragte ich empört.
    »Nicht die ganze Zeit. Erst seit ich Hans und nicht gewiss auf Deutsch in die Suchmaschine eingegeben habe.« Er runzelte die Stirn. »Warum habe ich plötzlich das Gefühl, ich sei dieser Tausendfüßler in Hyderabad? Ich wünschte, du könntest deinen geschockten Blick sehen.«
    Das brauchte ich gar nicht. Ich war nämlich wirklich geschockt. Und enttäuscht. Und wütend. »Was fällt dir ein?«, rief ich. »Mir vorzuspielen, dass … und dann einfach hinter meinem Rücken …«
    Henry lehnte sich zurück. »Worüber regst du dich bitte so auf? Ich hab nur dein Rätsel gelöst, ich dachte, das wolltest du.«
    »Das wollte ich?« Ich funkelte ihn zornig an. »Hast du sie noch alle? Wobei hast du mir im Traum zugesehen? Was hast du mit mir gemacht?«
    »Ich habe überhaupt nichts gemacht«, sagte er gekränkt. »Ich bin nicht mal durch diese Tür gegangen.«
    »Woher solltest du das mit dem Tausendfüßler sonst wissen?«
    »Lottie hat mir davon erzählt. Sie redet gern über dich. Ich weiß, dass du Bananen auf den Tod nicht ausstehen kannst, mit drei nicht mehr an den Weihnachtsmann geglaubt hast und bei ›Findet Nemo‹ immer an derselben Stelle anfängst zu heulen.«
    »Lottie?«
    »Die Traumlottie.« Er seufzte. »Die übrigens eine lausige Tanzlehrerin ist. Ich fürchte, wir müssen uns diesen Formationswalzer schenken, wenn wir uns nicht kolossal blamieren wollen.«
    »Du bist also nicht heimlich in meinen Träumen gewesen?« Meine Wut verrauchte so plötzlich, wie sie gekommen war.
    Er seufzte noch einmal und schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht. Frag Traumlottie. Ich bin brav vor der Tür geblieben

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