Das Erwachen: Dunkle Götter 1
nun war sie müde. Sie dachte nur noch daran, sich in ihre Kammer zurückzuziehen und in den wohlverdienten Schlaf zu sinken. Wie es der Zufall aber wollte, musste sie durch den Korridor gehen, der zur Bibliothek führte. Nur fünf Minuten früher, und sie wäre Mordecai begegnet. Dann hätten sich die Dinge ganz anders entwickelt.
Nun aber wanderte sie allein und gedankenverloren durch den Flur, voller Gewissensbisse wegen ihres Verhaltens Mort gegenüber. Auch wenn er sie nicht hatte erschrecken wollen, sie war völlig überrumpelt gewesen, als er diese grelle Lichtkugel in seinem Zimmer erschaffen hatte. Auf so etwas war sie gewiss nicht gefasst gewesen, als er die Vorhänge zugezogen und sich neben ihr auf das Bett gesetzt hatte. Um ehrlich zu sein: Sie war andererseits keineswegs sicher, wie sie denn auf einen Annäherungsversuch reagiert hätte. Mit Männern hatte sie viel weniger Erfahrung, als er zu glauben schien.
Die plötzliche Dunkelheit, als Marcus aufgetaucht war, hatte sie nervös gemacht, also war sie panisch weggelaufen. Im Nachhinein war es ihr peinlich, doch sie hatte nicht gewusst, wie sie sich verhalten sollte, als er sie im Sonnenzimmer angeblickt hatte. Danach hatte sie sich nur noch schlechter gefühlt.
Da öffnete plötzlich jemand eine Tür und riss sie aus ihren Tagträumen.
»Miss, könntet Ihr so gut sein, mir kurz zu helfen?« Lord Devon stand aufgeregt und nervös in der Tür. Wie schön! Sie war ohnehin schon erschöpft, und jetzt schien es, als müsste sie den Schlaf sogar noch weiter aufschieben.
»Gewiss, Euer Lordschaft. Wie kann ich Euch zu Diensten sein?«, antwortete sie äußerst freundlich. Sie war stolz auf ihre Arbeit und ließ sich auch durch die Müdigkeit nicht davon abhalten, den besten Eindruck zu machen.
»Habt Ihr mein Zimmer gereinigt, nachdem meine Sachen hergebracht wurden?«, fragte er.
»Nein, Euer Lordschaft. Ich habe bereits heute Morgen, ehe die Gäste eingetroffen sind, alle Räume gereinigt und gelüftet.« Hoffentlich war er nicht so kleinlich, sie damit zu behelligen, dass die Kissen oder Bettdecken nicht frisch genug dufteten.
»Vielleicht wäret Ihr so freundlich, mir behilflich zu sein? Ich habe anscheinend etwas verloren. Könntet Ihr mir suchen helfen?« Dem Ruf zum Trotz, den er unter dem Personal auf der Burg genoss, schien er außerordentlich höflich zu sein.
»Ich sollte um diese Nachtzeit wirklich nicht Eure Gemächer betreten, Sir«, erwiderte sie. Die Bitte schien recht harmlos, aber die Gerüchte konnten den Ruf eines Mädchens in ihrem Alter rasch zunichtemachen.
»Verstehe. Ich lasse die Tür offen, wenn es Euch lieber ist. Es ist nur so, dass ich ganz außer mir bin, weil ich eine Halskette verloren habe. Ein altes Erbstück obendrein.« Er kehrte ihr den Rücken, ging hinein und ließ die Tür offen stehen.
Seufzend folgte sie ihm. Er durchsuchte bereits die Schubladen der Kommode. »Könntet Ihr für mich im Schrank nachsehen? Dort drinnen ist es dunkel, und meine Augen sind nicht sehr gut.« Kaum dass sie den Schrank geöffnet und sich vorgebeugt hatte, um hineinzublicken, hörte sie, wie die Tür geschlossen und der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
Sie fuhr herum. Devon steckte den Schlüssel in die Hosentasche. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als sie seine Miene bemerkte. Sie hatte schon Geschichten über Zimmermädchen gehört, die von jungen Lords geschändet worden waren, aber in den Mauern der Burg von Lancaster war so etwas noch nie geschehen. Niemand hatte es bisher gewagt, die Gastfreundschaft des Herzogs zu missbrauchen und seinen Ruf zu schädigen.
»Sir, wenn Ihr mich entehren wollt, werde ich schreien. Der gute Herzog wird nicht zulassen, dass seine Diener so behandelt werden.« Sie bemühte sich, ruhig zu sprechen, obwohl sie in Panik geriet. Devon war mindestens fünfzig Pfund schwerer als sie, und auch wenn sie kein armes kleines Veilchen sein mochte, gab es doch keinen Zweifel daran, dass er sie leicht überwältigen konnte. Hektisch ließ sie den Blick durch das Zimmer wandern, ob sich nicht irgendetwas fände, das ihr als Waffe dienen konnte, um ihn in Schach zu halten. Dann fiel ihr ein, dass sie schlimmstenfalls sogar mit der Todesstrafe rechnen und im besten Falle geschlagen und entlassen werden würde, wenn sie einen Edelmann des Königreichs angriff.
Er kicherte. »Nur zu, schrei nur, wenn du magst. Wer wird dir schon glauben, wenn mein Wort gegen deines steht? Als ich in
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