Das Eulenhaus
seinen Mut zusammenzunehmen, um das Etablissement zu betreten, dessen Schild mit goldenen Buchstaben »Madame Alfrege« verkündete.
Irgendein unklarer Instinkt hatte ihn davon abgehalten, Midge einfach anzurufen und zu bitten, mit ihm zum Mittagessen zu gehen. Der kurze telefonische Gesprächsfetzen im »Eulenhaus« hatte ihn geärgert – nein mehr: schockiert. In Midges Stimme hatte eine Unterwürfigkeit, eine Willfährigkeit mitgeschwungen, die all seine Gefühle in Aufruhr gebracht hatte.
Dass die freie, fröhliche Midge, die nie ein Blatt vor den Mund nahm, sich ein solches Benehmen aneignen musste. Dass sie sich, wie sie ganz offensichtlich tat, derartige Grobheiten und Unverschämtheiten am anderen Ende der Leitung gefallen lassen musste. Da stimmte doch etwas nicht – die ganze Sache stimmte nicht! Und als er sein Unbehagen geäußert hatte, hatte Midge ihn schlankweg mit der unerfreulichen Wahrheit konfrontiert, dass man zusehen musste, seine Arbeitsstelle zu behalten, dass Stellen nicht leicht zu bekommen waren und dass man, um sich in einer Stelle zu halten, auch nicht vereinbarte Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen musste.
Bis dato hatte Edward einfach so hingenommen, dass junge Frauen heutzutage ganz oft eine »Stelle« hatten. Falls er überhaupt einmal darüber nachdachte, hatte er geglaubt, dass sie wahrscheinlich einfach deshalb eine Stelle hatten, weil sie gern eine Stelle haben wollten – es kam ihrem Unabhängigkeitsdrang entgegen und verschaffte ihnen einen eigenen Lebenssinn.
Dass ein Arbeitstag von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends mit einer Stunde Mittagpause so ein junges Mädchen von fast allen Vergnügungen und Erholungen der begüterten Klassen abhielt, war Edward schlicht noch nicht in den Kopf gekommen. Dass Midge, ohne ihre Mittagspause zu opfern, nie mal eben in eine Gemäldegalerie gehen, dass sie nicht einfach ein Nachmittagskonzert besuchen oder an schönen Sommertagen aus der Stadt fahren und in einem Landgasthaus fein zu Mittag essen konnte, sondern ihre Landpartien auf die Samstagnachmittage und Sonntage verlegen und mittags rasch in einem überfüllten »Lyons« oder einem Imbiss essen musste, das war für ihn eine neue und nicht gerade erfreuliche Entdeckung. Er mochte Midge nämlich. Die kleine Midge – das war sie für ihn. Die ganz scheu und mit großen Augen in den Ferien in »Ainswick« aufgetaucht war und den Mund kaum aufgekriegt hatte, und die dann solche Begeisterung und Zuneigung entfaltet hatte.
Seine Neigung, ausschließlich in der Vergangenheit zu leben und die Gegenwart allenfalls skeptisch zu akzeptieren, als etwas noch Unerprobtes, hatte Edward lange nicht erkennen lassen, dass Midge ein erwachsener Mensch war und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdiente.
Erst an jenem Sonntagabend, als er frierend und bibbernd von diesem merkwürdigen, bedrückenden Zusammenstoß mit Henrietta wieder ins Haus gekommen war und Midge sich hingekniet und das Kaminfeuer angemacht hatte, war ihm zum ersten Mal aufgefallen, dass sie gar kein lieb-verspieltes Kind mehr war, sondern eine Frau. Die Vorstellung war unbehaglich gewesen – einen Augenblick lang hatte er sich gefühlt, als hätte er etwas verloren, irgendeinen sehr kostbaren Teil von »Ainswick«. Und er hatte ganz spontan, aus diesem plötzlich aufkeimenden Gefühl heraus, gesagt: »Ich würde dich sehr gern öfter sehen, kleine Midge…«
Da draußen im Mondlicht, beim Gespräch mit einer verwirrenderweise gar nicht mehr vertrauten Henrietta, die er doch so lange geliebt hatte, war ihm ganz plötzlich panisch zu Mute gewesen. Und dann war er wieder nach drinnen gekommen, nur um das solide Muster, das sein Leben war, wiederum gestört zu finden. Auch die kleine Midge war ein Teil von »Ainswick« – aber dies war gar nicht mehr die kleine Midge, sondern eine mutige Erwachsene mit traurigen Augen, die er gar nicht richtig kannte.
Seit dem Abend hatte er Gewissensbisse gehabt und sich wieder und wieder Selbstvorwürfe gemacht, weil er so gedankenlos gewesen war und sich nie für Midges Glück oder Wohlergehen interessiert hatte. Der Gedanke an ihre völlig unpassende Stelle bei Madame Alfrege hatte ihn schließlich so umgetrieben, dass er sich selbst ansehen wollte, was für ein Kleiderladen das eigentlich war.
Jetzt musterte er argwöhnisch ein kleines schwarzes Kleid mit einem schmalen Goldgürtel, ein paar flotte, knappe Stricksachen und eine Abendrobe aus ziemlich geschmackloser bunter Spitze im
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