Das Fest
schlank und sehr attraktiv für eine Frau ihres Alters — sie war Anfang fünfzig.
»Hast du schon von Bev Scheel gehört?«, flüsterte Millie, als hätte Luther sich plötzlich in Luft aufgelöst. Nun wurde er doch mürrisch und betete im Stillen, er möge niemals mit irgendeiner schrecklichen Krankheit geschlagen werden. Nicht in dieser Stadt. Die Vereinsfrauen würden wohl eher davon erfahren als er selbst.
Lieber ein Herzinfarkt oder ein Autounfall, etwas, das schnell geht. Etwas, das nicht herumgeflüstert wird, während ich dahinsieche.
Schließlich verabschiedete sich Millie. Luther und Nora aßen ihren Salat auf. Hungrig bezahlte er die Rechnung und ertappte sich wieder einmal dabei, wie er von den üppigen Tafelfreuden auf der Island Princess träumte.
Nora hatte noch Besorgungen zu machen. Luther nicht. Er fuhr heim in die Hemlock Street, stellte den Wagen in der Auffahrt ab und war erleichtert, dass keine Nachbarn vor dem Haus herumlungerten. Dafür fand er im Briefkasten vier weitere anonyme Frosty-Weihnachtskarten, diesmal mit den Poststempeln von Rochester, Fort Worth, Green Bay und St. Louis. Frohmeyers Kollegen an der Universität gingen oft auf Reisen, und Luther vermutete, dass sie sich einen Spaß aus diesem Spielchen machten. Frohmeyer selbst war rastlos und kreativ genug, um der Kopf einer solchen Verschwörung zu sein. Bisher hatten Nora und Luther einunddreißig Karten erhalten, zwei davon sogar aus Vancouver. Luther hob sie alle auf, denn er wollte sie nach seiner Rückkehr aus der Karibik in einen großen Umschlag stopfen und per Post zwei Häuser weiter zu Vic Frohmeyer schicken — selbstverständlich anonym.
»Dann bekommt er sie gleichzeitig mit all seinen Kreditkartenrechnungen«, murmelte Luther und legte die vier Karten in die Schublade zu den anderen. Er entzündete ein Feuer im Kamin, machte es sich unter einer Decke in seinem Sessel gemütlich und schlief ein.
An jenem Abend ging es in der Hemlock Street hoch her. Ganze Banden wild gewordener Weihnachtssänger wechselten sich vor dem Haus der Kranks ab. Häufig wurden die Reihen noch durch Nachbarn verstärkt, die sich von der Euphorie des Augenblicks mitreißen ließen. Als der Chor des Lions Club seinen Auftritt hatte, brach hinter ihm Sprechgesang los. »Wir wollen Frosty!«
Kurz darauf tauchten wieder selbstgebastelte Schilder auf, die »Freiheit für Frosty« forderten. Das erste wurde von keinem Geringeren als Spike Frohmeyer in den Boden gehämmert. Er und seine kleine Clique rasten auf Skateboards und Fahrrädern johlend die Straße rauf und runter und lebten in vollen Zügen ihren vorweihnachtlichen Überschwang aus.
Schließlich kam eine Art improvisiertes Straßenfest zustande. Trish Trogdon kochte heißen Kakao für die Kinder, während ihr Mann Wes vor dem Haus Lautsprecher aufbaute. Schon bald hallten »Frosty der Schneemann« und »Jingle Bells« durch die Nacht und wurden nur dann unterbrochen, wenn ein echter Chor eintraf, um den Kranks ein Ständchen zu bringen. Wes spielte eine Auswahl der schönsten Weihnachtslieder, aber sein absoluter Lieblingssong an diesem Abend war »Frosty«.
Das Haus der Kranks blieb dunkel und still, verrammelt und verriegelt. Nora stand im Schlafzimmer vor dem Kleiderschrank und überlegte, was sie einpacken sollte. Luther saß im Keller und versuchte zu lesen.
12
H eiligabend. Luther und Nora wurden kurz vor sieben Uhr vom Klingeln des Telefons geweckt. »Kann ich bitte mal mit Frosty sprechen?«, ertönte die Stimme eines Teenagers, doch ehe Luther eine passende Antwort abfeuern konnte, wurde schon wieder aufgelegt. Er schaffte es, darüber zu lachen, sprang aus dem Bett, tätschelte seinen ziemlich straffen Bauch und sagte: »Die Inseln warten auf uns, Liebling. Lass uns packen.«
»Hol mir Kaffee«, muffelte Nora und vergrub sich tiefer unter der Decke.
Draußen war es kalt, der Himmel war bewölkt, und die Chancen auf eine weiße Weihnacht standen fünfzig zu fünfzig. Luther hatte überhaupt keine Lust auf Schnee. Nora würde nur wehmütig werden, wenn es an Heiligabend schneite. Sie war in Connecticut aufgewachsen, wo es ihrer Aussage nach jedes Jahr zu Weihnachten weiß gewesen war.
Und außerdem könnte Schnee den Flug gefährden.
Luther blieb an genau der Stelle vor dem Wohnzimmerfenster stehen, die sonst immer von ihrem Weihnachtsbaum eingenommen wurde, schlürfte seinen Kaffee und warf einen prüfenden Blick über den Rasen. Er wollte sichergehen, dass er
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