Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
zum Himmel empor. Sein schiefergraues Dach schien die Wolkenberge, die sich über ihm auftürmten, beinahe zu berühren. Rings um das Kap ragten Felsbrocken aus der tosenden Brandung empor, einige kaum größer als ein Mensch, andere so gewaltig wie ein Haus. Sie wirkten wie die vergessenen Spielzeuge eines Giganten, ihre schroffen Umrisse von Wind und Wasser über Jahrtausende geformt.
Es war ein wunderbarer, imposanter Anblick.
»Das ist der Nugget Point«, erklärte Josh. Er musste seine Stimme heben, um gegen das Tosen der See anzukommen. »Die Felsen haben diesem Ort seinen Namen gegeben, wie du dir sicher schon gedacht hast. Gefällt es dir?«
»Ob es mir gefällt?« Shelly lachte. »Es ist herrlich, einfach fantastisch! Ich habe gar nicht gewusst, dass es ganz in der Nähe so einen wunderbaren Ort gibt. Bisher war ich viel zu sehr damit beschäftigt, mein Leben und das der Kinder neu zu organisieren, um mich wirklich mit unserem neuen Zuhause zu beschäftigen.«
»Ich weiß – deshalb sind wir ja auch hier. Was meinst du, wollen wir zum Leuchtturm hinauf?«
Staunend schaute Shelly ihn an. »Darf man das denn?«
Er schmunzelte. »Würde ich es sonst anbieten?« Wieselbstverständlich nahm er ihre Hand, und Shelly erhob keinen Widerspruch. »Komm, gehen wir.«
Allein der kurze Spaziergang über die Landzunge war schon ein Erlebnis. Der Wind fegte über die Felsen hinweg, so als wollte er die beiden Menschen, die dem schmalen Weg zum Leuchtturm hinauf folgten, davonblasen. Shellys Herz klopfte aufgeregt – jedoch nicht, weil sie sich fürchtete. Auch die fantastische Aussicht über den endlosen Pazifik hatte damit nichts zu tun. Nein, es war allein Joshs Nähe und seine Hand, welche ihre fest umfasst hielt, die sie so empfinden ließ.
» Nugget Point Lighthouse wurde bereits im Jahr 1869 erbaut, um zu verhindern, dass Schiffe auf die gefährlichen Untiefen und Klippen rund um das Kap auflaufen«, erklärte Josh, als sie den Leuchtturm erreichten. »Der Turm ist knapp unter hundert Meter hoch, und man kann sein Leuchtfeuer bis zu zweiundzwanzig Meilen weit sehen.«
Shelly legte den Kopf in den Nacken, um einen Blick auf das Leuchtfeuer zu erhaschen, doch sie konnte nichts erkennen. »Ist er noch in Betrieb?«
Josh nickte. »Ist er. Wobei er allerdings seit den Achtzigerjahren automatisiert von Wellington aus gesteuert wird. Der Leuchtturmwächter ist damit also arbeitslos geworden, aber …« Plötzlich hielt er inne und blieb stehen. Sein Blick war auf einen Punkt unten in der Brandung gerichtet, und als Shelly ihm folgte, entdeckte sie einen dunklen Fleck unterhalb der Wellen.
Sie runzelte die Stirn. »Was ist das?«
Der Fleck bewegte sich, wurde größer und brach schließlich, begleitet von einem Laut, der irgendwo zwischen einem Bellen und einem Jaulen angesiedelt war, durch die Wasseroberfläche.
Erschrocken machte Shelly einen Schritt zurück, doch als sie dann erkannte, wovor sie sich gefürchtet hatte, begann sie zu lachen. »Das ist ja ein Seelöwe!«
»Nein«, korrigierte Josh schmunzelnd. »Aber dicht dran – es ist ein Seebär. Die besitzen nämlich im Gegensatz zu den Seelöwen ein dichtes Unterfell. Rings um den Nugget Point gibt es eine ganze Kolonie dieser Tiere, und außerdem Basstölpel, Löffler und sogar Pinguine.«
»Pinguine? Ich dachte immer, die gibt es nur am Nordpol!«
»Im Gegenteil! Pinguine sind ausschließlich in der südlichen Hemisphäre verbreitet. Man findet sie vor allem in der Antarktis, aber auch entlang der Küsten Australiens, Neuseelands, Südamerikas und Südafrikas. Hier am Nugget Point gibt es vor allem Gelbaugenpinguine. Wer weiß, vielleicht läuft uns heute ja noch einer über den Weg. Aber ich schlage vor, dass wir uns vorher den Leuchtturm ansehen.«
Sie gingen das letzte Stück zum Leuchtturm, der von einer schmalen Plattform umgeben war, von der aus man einen herrlichen Blick auf die gesamte Umgebung hatte. Tief sog Shelly die klare, kühle Luft in ihre Lungen. Sie schmeckte einen Hauch von Salz, als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, und schloss die Augen.
Im nächsten Moment spürte sie, dass Josh hinter sie getreten war. Der markante Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase, und sie konnte seine Wärme spüren. Ihr Herz klopfte heftiger; es flatterte wie ein kleiner Vogel im Käfig, der versuchte, aus seinem Gefängnis zu entkommen. Das Tosen der Brandung und die Schreie der Möwen traten so weit in den Hintergrund, bis
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