Das Geheimnis des Falken
hin grunzte.
Wenn das ›Schießen‹ aussetzte, was ab und zu geschah, speisten Turtmann und Frau ausführlich aus Papiertüten und tranken aus einer überdimensionalen Thermosflasche Kaffee dazu. Sie redeten wenig, und ich war froh darüber. Ich brauchte meine ganze Aufmerksamkeit, um die Lastwagen auf der Straße korrekt zu überholen. Außerdem hatten wir rund 260 km zurückzulegen, um den Ort zu erreichen, der mir als Ziel vorschwebte.
Wäre ich mit Amerikanern unterwegs gewesen, hätte ich, lange vor Spoleto, die Namen ihrer Söhne und Töchter gewußt; sie hätten mir ihre Heimatstadt und ihre Reise vom Ausgangshafen bis zur Landung in Europa genau beschrieben. Sie hätten den Inhalt ihrer Lunchtüten mit mir geteilt und meine Taschen bis zum Bersten und zu meiner Verlegenheit mit Zigaretten voll gestopft. Ganz anders die Deutschen. Sie wollten saubere Arbeit, und ich lieferte sie.
»Was ist mit heute abend?« fragte Herr Turtmann plötzlich, »wo wollen wir übernachten?«
»Wir übernachten in Ruffano«, sagte ich.
Er blätterte mit Geraschel in dem Führer herum, der auf seinen Knien lag. »Da sind diverse Bauwerke mit drei Sternen versehen, Gerda«, teilte er seiner Frau mit. »Die können wir alle knipsen. Ruffano ist genau das Richtige für uns.«
Es war eine Ironie des Schicksals und zugleich höchst sinnreich, daß ich die Stadt, wo ich geboren war, wo ich die ersten elf Jahre meines Lebens verbracht hatte und aus der ich in Gesellschaft eines Deutschen fortgegangen war, zwanzig Jahre danach in Gesellschaft eines anderen Deutschen wieder betreten sollte.
Jetzt, im März, war die Landschaft, die an uns vorüberflog, rötlich-grau getönt. Sie wirkte nackt und abweisend, und der Himmel drohte mit spätem Schnee, wie wir ihn schon in Florenz hatten fallen sehen. Damals, im glühend heißen August des Jahres 1944, hatten die Straßen, die von Ruffano aus nach Norden führten, geglitzert von weißem Staub. Die Laster und sonstigen Kraftfahrzeuge der Wehrmacht hatten dem Kommandanten in seinem Mercedes, von dessen Haube ein Wimpel flatterte, willig Platz gemacht.
Manchmal, wenn sie die Bedeutung des Wagens gewahr wurden, rafften sich die übermüdeten Fahrer der Laster zu einem militärischen Gruß auf, den der Kommandant gelegentlich erwiderte. Brachte er den Schwung dazu nicht auf, grüßte ich an seiner Stelle. Das half mir, diese Reise zu überstehen, und es ersparte mir den Anblick der schönen Schlampe, die meine Mutter war und die ihren Eroberer mit Weintrauben fütterte. Ihr häufiges und ziemlich dummes Gelächter, das mit dem seinen verschmolz, beleidigte meine Vorstellung von der Würde erwachsener Menschen.
Überhaupt spielten die beiden unglaublich kindische Spiele. Ich hatte mit angesehen, wie er meine Mutter in ihr Schlafzimmer jagte, während sie quietschend, in angeblichem Entsetzen, flüchtete. Anschließend pflegten sie die Tür zuzuschlagen und von innen abzuschließen, bis sie nach einer Weile ein wenig ernüchtert wieder zum Vorschein kamen und das ganze Spiel offenbar vergessen hatten.
»Ich sehe gerade …«, sagte Herr Turtmann zu seiner Frau, »im Herzogspalast von Ruffano hängt ein bemerkenswertes Gemälde, das Christi Versuchung darstellt und bis auf den heutigen Tag als blasphemisch gilt. Ich habe immer gemeint, unsere Leute hätten es abtransportiert und in Sicherheit gebracht.«
Ich erzählte ihm nicht, daß ich dabei war, als mein Vater, der Direktor, und seine Assistenten das Bild mit größter Sorgfalt verpackt und mit ein paar anderen im Keller des Palastes verstaut hatten, weil sie einen entsprechenden Anschlag befürchteten.
Erst in Spoleto bezeigten meine Auftraggeber Lust auf einen kurzen Imbiss. Nachdem sie eilig ein paar Aufnahmen von der Piazza und der Fassade des Domes gemacht hatten, rasten wir weiter nach Foligno und durch Foligno hindurch. Die Straße wand und drehte sich zwischen wogenden Hügeln, während weiter vorn die schneebedeckten Höhen vermuten ließen, daß meine Heimatstadt, die etwa 500 Meter hoch lag, noch im Banne des Winters war. Dann fielen die ersten Schneeflocken oder vielmehr fuhren wir, von Süden kommend, in den Schnee hinein. Hier mußte es den ganzen Tag geschneit haben. Der Himmel sah aus wie ein Leichentuch. Die Flüsse, geschwollen vom Wasser der Bergbäche, brüllten neben uns in den Schluchten.
»Ist es nicht gefährlich, weiterzufahren?« fragte Herr Turtmann, der für seine Kamera keine Verwendung mehr sah.
»Ob es
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