Das Geheimnis des Feuers
dich«, sagte Doktor Raul und zeigte auf ihre Beine. »In ein paar Jahren musst du wiederkommen«, sagte Mestre Emilio. »Aber erst dann, wenn du so sehr gewachsen bist, dass du zwei neue Beine brauchst.«
»Ich kann ihr nichts mehr beibringen«, sagte Benthino. »Bei mir gibt es schon viele in der Warteschlange, die wieder gehen lernen müssen.«
»Ich fahr dich selbst nach Hause«, sagte Doktor Raul. »Morgen hol ich dich aus dem Heim ab, in dem du wohnst.«
An diesem Tag kamen mehrere der Krankenschwestern, die sich in der ersten schweren Zeit um Sofia gekümmert hatten, und verabschiedeten sich von ihr. Es waren Marta und Celeste und Mariza. Sofia war die ganze Zeit verlegen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Am Nachmittag, kurz bevor das Auto sie abholen würde, lief sie hinaus, hüpfte auf ihren Krücken zu den Frauen, die auf der Straße saßen und ihre Waren verkauften. Miranda war da und all die anderen. Als Sofia erzählte, dass sie nun nach Hause zurückkehren würde, brach ein gewaltiger Lärm los. Sie riefen und redeten durcheinander und wünschten ihr Glück. Wieder war Sofia verlegen. Als sie in das Heim für Alte und Kranke zurückkehrte, stand ihr das Schwerste bevor. Sie musste sich von Veronica verabschieden, die ihr so sehr geholfen hatte. Veronica, die ihr die ganze lange Zeit wie eine zweite Mama gewesen war. Sofia würde sie auf besondere Art vermissen, fast so wie jene, die in dem niedergebrannten Dorf zurückgeblieben waren, aus dem sie einmal geflohen waren. Aber Veronica schien sich darüber zu freuen, dass Sofia nun nach Hause fahren durfte.
»Du kommst mich bestimmt mal besuchen«, sagte sie.
Sofia nickte. Aber sie fragte sich, ob das je geschehen würde. Da sie die Stadt jetzt verließ, fiel es ihr schwer zu glauben, dass sie noch einmal zurückkehren werde. Sie hatte sich nie an die hohen Häuser gewöhnt, an die vielen Autos und all die Menschen, die überall waren und die sie nicht kannte. Sofia wollte unter Menschen leben, die Namen hatten, die vielleicht nicht zu ihrer Familie gehörten, aber die jedenfalls ihre Freunde waren. Einmal vor langer Zeit, als sie noch auf der Flucht gewesen waren, hatte sie gedacht, eine Stadt sei etwas Aufregendes, etwas, was sie gern kennen lernen wollte, so wie sie sich danach gesehnt hatte, das Meer zu sehen. Aber jetzt wusste sie, dass ein Unterschied war zwischen dem Meer und der Stadt. Der Unterschied war in ihr. Die Stadt wollte sie verlassen. Aber das Meer wollte sie wieder sehen. Sie erinnerte sich auch an die alte Frau, der sie auf ihrer Flucht begegnet waren. Sie, die sich eines Tages hingesetzt hatte und nicht mehr aufgestanden war.
»Keiner von uns hat Beine, die dazu gemacht sind, die Stadt zu erreichen«, hatte sie gesagt. Trotzdem hatte Sofia sie erreicht. Aber nur um neue Beine zu bekommen. Sie nahm das bisschen, was ihr gehörte, und setzte sich dann in die Türöffnung, um die Sonne untergehen zu sehen. In allen Türen entlang des Ganges sah sie Köpfe und zusammengesunkene Gestalten. Es waren meistens alte Männer, kraftlos, blind, mit Körpern, denen ein Arm oder ein Bein fehlte. Sie wusste, dass viele von ihnen die Krankheit hatten, die Lepra heißt. Sofia dachte daran, dass sie immer hier bleiben mussten. Sie konnten nirgendwo hingehen, sie hatten keinen Ort, an den sie zurückkehren konnten. Veronica brachte ihr zum letzten Mal einen Teller. Sofia aß und Veronica setzte sich neben sie in die Türöffnung.
»Wer wird nach mir hier wohnen?«, fragte Sofia.
»Es kommt immer jemand«, antwortete Veronica. An diesem Nachmittag hatte Sofia über eine Sache nachgedacht. Jetzt fand sie es angebracht, es auszusprechen. »Wenn Hortensia wiederkommt«, sagte sie, »dann grüß sie von mir.«
Veronica schien sich nicht zu erinnern, wer Hortensia war. Aber plötzlich nickte sie. »Hortensia«, sagte sie. »Ich hatte sie fast vergessen. Natürlich werde ich sie von dir grüßen, wenn sie wiederkommt. «
Die Dämmerung kam. Es wurde dunkel. An diesem Abend schlief Sofia früh ein, als ob es dann schneller Morgen werden würde, der Tag, an dem sie mit Doktor Raul nach Hause fahren konnte.
Am nächsten Tag verließ sie die Stadt. Doktor Raul hatte sie abgeholt. Es war das erste Mal, dass sie ihn ohne die weiße Arztjacke sah. Sein Auto war klein und alt. Die Stoßstange war mit Stahldraht befestigt, ein Scheinwerfer fehlte, und als Sofia sich ins Auto gesetzt hatte, wollte es nicht starten. Doktor Raul breitete resigniert die
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