Das Geheimnis von Ella und Micha: Ella und Micha 1 - Roman (German Edition)
einer Hand ab und sehe zu ihr auf. »Ist er okay?«
Seufzend lehnt sie sich in den Türrahmen. »Er hat heute einen schlechten Tag, sonst nichts. Versuch es in ein paar Tagen nochmal, ja?«
Ich nicke und steige die Treppe hinunter, während sie die Tür schließt. Ratlos blicke ich zum hinteren Fenster, wo Gradys Schlafzimmer ist. Er ist krank, und ich kann rein gar nichts tun. Auf das hier habe ich keinerlei Einfluss. Micha hatte recht. Ich kann nicht alles kontrollieren.
Entsetzliche Bilder von meiner sterbenden Mutter bestürmen mich. Ich laufe ins Feld und übergebe mich.
Der städtische Friedhof liegt oben auf dem Cherry Hill. Zu Fuß ist das ein ziemlicher Marsch, aber ich genieße diesen Ausbruch aus der Realität. Dort oben ist niemand, man trifft überhaupt selten Menschen auf dem Friedhof. Ich gehe durch die Pforte und setze mich an einen Baum vor dem Grab meiner Mom. Der kleine Friedhof ist komplett von Bäumen eingerahmt, weshalb die Rasenflächen von trockenem Laub bedeckt sind.
Als Erstes zeichne ich den Zaun mit dem rankenden Efeu, bevor ich mich an die obere Rundung des Grabsteins mache. Ich verliere mich so sehr in den Bewegungen, dass ich dem Grabstein Flügel hinzufüge, weil meine Mom immer so fasziniert vom Fliegen gewesen ist.
Einige Wochen vor ihrem Tod bat sie mich, mit ihr spazieren zu gehen. Ich gab nach, obwohl ich an dem Tag etwas anderes vorgehabt hatte. Es war sonnig, und die Luft roch nach frisch gemähtem Gras. Nichts ließ erahnen, dass irgendwas schiefgehen könnte.
Sie wollte zur Brücke, also gingen wir quer durch die Stadt zum See. Als wir dort ankamen, kletterte sie auf die Brüstung und breitete die Arme aus, um die Balance zu halten. Ihr rotbraunes Haar flatterte im Wind.
»Mom, was soll das?«, sagte ich und wollte sie an ihrem Rock wieder runterziehen.
Sie wich mir aus und starrte nach unten zum Wasser. »Ella May, ich glaube, ich kann fliegen.«
»Mom, hör auf und komm wieder runter«, sagte ich. Zuerst nahm ich sie gar nicht ernst.
Aber dann drehte sie den Kopf zu mir, und ich erkannte an ihren Augen, dass sie nicht scherzte. Sie glaubte wirklich, dass sie fliegen konnte.
Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Mom, bitte steig wieder nach unten. Du machst mir Angst.«
Als sie den Kopf schüttelte, zitterten ihre Beine ein bisschen. »Ist schon okay, mein Schatz. Mir passiert nichts. Ich spüre ganz deutlich in meinem Körper, dass ich fliegen kann.«
Vorsichtig ging ich einen Schritt auf sie zu, wobei ich mit einem Fuß gegen den Kantstein stieß und mir den Zeh aufriss. Ich fühlte, wie er zu bluten begann, sah aber nicht hin. Ich wagte nicht, meine Mutter aus den Augen zu lassen. »Mom, du kannst nicht fliegen. Menschen können nicht fliegen.«
»Dann bin ich vielleicht ein Vogel«, sagte sie ernst. »Vielleicht habe ich Flügel und Federn, und sie tragen mich weg. Ich werde eins mit dem Wind.«
»Du bist kein Vogel!«, rief ich und griff erneut nach ihr, doch sie hüpfte auf eine der Querstreben und lachte, als wäre alles ein Spiel. Ich fuhr mir mit beiden Händen durchs Haar, ums es nach hinten zu zwingen, ehe ich auf das Geländer kletterte. Ein Sturz aus dieser Höhe würde uns zerschmettern, wenn wir auf dem Wasser aufschlugen. Ich hielt mich an den Streben über mir fest und balancierte zu ihr. »Mom, wenn du mich liebst, steig runter!«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, heute werde ich fliegen.«
Ein Truck fuhr auf die Brücke und hielt in der Mitte, während ich mich vorsichtig meiner Mom näherte. Ethan sprang aus dem Wagen und wirkte völlig cool. »Hey, Mrs. Daniels. Wie geht’s?«
Ich sah ihn entsetzt an und zischte: »Was machst du denn?«
Er beachtete mich nicht. »Übrigens ist es da draußen nicht besonders sicher.«
Meine Mom wandte sich zur Seite. »Ach, mir passiert nichts. Meine Flügel tragen mich weg.«
Ich war verzweifelt, aber Ethan zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er lehnte die Arme auf das Geländer. »Kann ja gut sein, aber was, wenn nicht? Was dann? Ich meine, lohnt sich das Risiko?«
Ich sah zu meiner Mom, und sie schien zu überlegen. Sie blickte zu dem dunklen Wasser unter ihren Füßen, dann zum strahlenden Himmel über ihr. »Vielleicht denke ich noch ein bisschen darüber nach.«
Ethan nickte. »Ja, das ist bestimmt eine gute Idee.«
Sie ging über die Querstrebe und setzte einen Fuß aufs Geländer. Ethan half ihr nach unten, und wir stiegen in seinen Truck. Binnen Minuten war sie eingeschlafen,
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