Das Geständnis der Amme
zittrig – vielleicht war sie das schon die ganze Zeit über gewesen und es fiel ihm erst jetzt auf. Er wollte sie vor sich auf das Pferd heben, doch sie verweigerte den damenhaften Sitz.
»Wir sind schneller, wenn ich hinter dir wie ein Knabe hocke«, erklärte sie.
Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass sie ihn vertraulich mit Du angesprochen hatte – und dass sie nun dicht gepresst hinter ihm saß, ihr warmer Atem seinen Nacken streifte und ihre Hände Halt suchend um seine Schultern lagen.
Bald ließen sie Senlis mit seiner ovalen, ganze neunhundert Meter langen Mauer hinter sich, passierten
Augustomagus,
einen Vorort, wo sämtliche Straßen nördlich der Seine zusammenliefen, und ritten fröstelnd und wortlos bis in die Mittagszeit. Der Wald, den sie alsbald erreicht hatten, wirkte seltsam kahl. Die weißen Birken mit ihrem luftigen Blätterkleid standen so grau, als wäre ihre Rinde zu Asche verbrannt. Die Nadelbäume waren dürr und verschrumpelt wie die Finger eines uralten Mannes, steif und brüchig auch wie dessen Knochen. Der Wind kläffte hungrig.
Als sie das erste Mal rasteten, war es schließlich Judith, die die ersten Worte sagte.
»Es tut mir leid«, murmelte sie. »Es tut mir leid, dass ich dich in solche Schwierigkeiten bringe.«
Bis jetzt hatte sie nie angesprochen, dass er sich ihretwegen womöglich um alles brachte, was er sich im Leben erkämpft hatte. Sie hatte auch nie versucht, ihm die Entschlossenheit, ihr zu helfen, auszureden.
»Ich tue, was ich tun muss«, sagte er schnell, » … und tun will.«
Nachdenklich ruhte ihr Blick auf ihm. »Doch was gab dir die Gewissheit, dass ich es wert bin, alles aufs Spiel zu setzen?«
Zum ersten Mal an diesem Tag betrachtete er sie nicht flüchtig, sondern ganz genau. Erbarmungswürdig schlotterten die Jungenkleider an ihr; in ihrem bleichen Gesicht standen immer noch die Spuren der Asche; die Kappe war längst verrutscht und vermochte nicht alle ihre Flechten zurückzuhalten. Er hatte sie immer für außergewöhnlich schön gehalten, auf eine Weise, die irgendwie auch abstoßend gewesen war. Die Gier, nach ihr zu greifen, war stets von der Scheu in Schach gehalten worden, Verbotenes zu tun. Eine Scheu auch davor, von ihrer Leblosigkeit und Erstarrung angesteckt zu werden.
»Nun«, drängte sie, als er ihr keine Antwort gab, »was gab dir die Gewissheit, dass ich es wert bin?«
Verwirrt schüttelte er den Kopf. »Ich habe diese Gewissheit nicht«, meinte er leichtfertig. »Ich muss wohl schlichtweg den Verstand verloren haben.«
Sie schien froh, dass er sie nicht mit Lügen und Ausreden überhäufte, auch wenn das Lächeln, das sie aufsetzte, nicht nur dankbar, sondern irgendwie auch wehmütig geriet.
»Ich wünschte, ich könnte dir …«, setzte sie an.
Sie sprach nicht weiter. Bis jetzt hatte der Wald keine anderen Laute preisgegeben als ächzen und Knacken, Vogelgekreisch und Windböen. Doch nun erklangen Geräusche vom Weg her, auf dem sie gekommen waren. Einige der Vögel stoben aus dem Gebüsch, spürten wohl noch früher als sie die Erschütterung von Pferdehufen.
Judith und Balduin warfen sich einen raschen Blick zu, in dem alles stand, was sie sich nun nicht mehr sagen konnten: Furcht und Entschlossenheit, Verzagtheit und Kampfbereitschaft. Man hatte ihre Verfolgung früher aufgenommen als erhofft.
»Schnell! In den Wald!«
Judith stand wie erstarrt, horchte noch auf die näherkommenden Laute.Doch ehe die Reiter sichtbar wurden, hatte Balduin sie bereits am Arm gepackt und vom Weg in den schützenden Schatten der Bäume gezerrt. All sein Trachten bestand darin, möglichst lautlos zu sein. Erst als sie schließlich still im Schatten einer der großen Buchen standen, gewahrte er, dass er noch nie so dicht bei ihr gestanden hatte. Er konnte das unruhige Pochen ihres Herzens spüren, das ihre vermeintliche Beherrschtheit Lügen strafte.
»Das Pferd …«, murmelte sie.
»Psst«, machte er, um dennoch erklärend hinzuzufügen: »Wenn wir es losgebunden hätten und davongeritten wären, dann hätten sie uns bemerkt.«
Ihr Körper versteifte sich, er war sich nicht sicher, ob vor Angst oder weil er sie zwischen sich und den Baumstamm gepresst hatte. Er fühlte jene winzige Stelle hinter seinem Ohrläppchen brennen, so wie es immer gewesen war, wenn er bei einer Frau lag, doch er versuchte, nicht darauf zu achten, sondern auf die näherkommenden Laute, das Hufgetrappel und dann schließlich, als die Reiter anhielten,
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