Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
einen Anfall gekriegt. Ich musste ihr sagen, es wär deins.“
„Aber es war nicht meins.“
Unsere Blicke trafen sich. Ihre Augen waren gerötet, und Tränen schimmerten darin. „Ich weiß“, flüsterte sie. „Kate, was ist mit mir passiert?“
Auf der anderen Seite des Tischs war James plötzlich verdächtig reglos, und ich bemerkte, dass er seine Kopfhörer nicht mehr trug. Nicht nur, dass ich Ava erzählen musste, was passiert war – jetzt würde ich es auch noch ihm erklären müssen, wenn sie weg war. Er würde mir nicht glauben – das würde niemand, der noch ganz bei Trost war. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich mir selbst glaubte, und ich war immer noch nicht vollständig davon überzeugt, dass nicht doch alles ein ausgeklügelter Streich war.
Ava wandte den Blick nicht von mir, wartete, dass ich anfing zu sprechen, und ich wusste, aus dieser Sache würde ich nichtrauskommen. Selbst wenn sie mich wirklich für verrückt halten würden – das Bedürfnis, es jemandem zu erzählen, zu verstehen, was passiert war, war erdrückend. Ich holte tief Luft, und dann erzählte ich ihnen alles.
Als ich fertig war, starrte Ava mich mit feucht schimmernden Augen an. „Oh Kate – du bist wirklich in den Fluss gesprungen, um mich zu retten?“
Ich zuckte mit den Schultern, und bevor ich wusste, wie mir geschah, schlang sie die Arme um mich und vergrub ihr Gesicht an meinem Hals. Die Umarmung dauerte fast eine halbe Minute, und mit jeder verstreichenden Sekunde wurde es peinlicher. Endlich ließ sie mich los, aber ihre Hände lagen noch immer auf meinen Schultern.
„Das ist das Netteste, was je jemand für mich getan hat. Als ich versucht hab, Dylan davon zu erzählen …“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Er hat mich ausgelacht und gesagt, ich soll aufhören, mir Geschichten auszudenken.“
Am Sportlertisch saß Dylan inmitten seiner Freunde, und alle schienen äußerst erheitert. Ava neben mir sah am Boden zerstört aus. „Also hast du mit ihm Schluss gemacht?“, fragte ich.
„Spielt keine Rolle“, murmelte sie und stocherte in ihrem Sandwich herum. „In einer Woche wird er darum betteln, dass ich ihn zurücknehme. Was ist mit Henry? Du hast ihm echt alles versprochen? Was wollte er von dir?“
Aus dem Augenwinkel sah ich James aufblicken.
„Ich bin mir nicht ganz sicher“, gestand ich. „Er hat gefragt, ob ich den Mythos von Persephone kenne, und meinte, die Herbst-Tagundnachtgleiche wäre in zwei Wochen. Er hat gesagt, sobald ich ihre Geschichte nachgelesen hätte, wüsste ich, was er von mir will. Ich hab sie schon mal gehört, aber ich verstehe nicht, was das mit dem hier zu tun haben soll …“
Auf der anderen Seite des Tisches wühlte James in seinem Rucksack herum und warf einen Haufen schwere Bücher und Ordner auf den Tisch. Das machte einen solchen Lärm, dass die halbe Cafeteria zu uns herüberstarrte. Ich zog den Kopf ein und versuchtegleichzeitig zu begreifen, wie all die Sachen in seinen Rucksack gepasst hatten. Schließlich holte er einen Wälzer hervor, in dem ich unser Englischbuch erkannte. Scheinbar wahllos schlug er es auf, aber als ich den Hals reckte, um zu sehen, welche Seite es war, erkannte ich, dass es ganz und gar nicht wahllos gewesen war.
„Das hier ist die Geschichte von Persephone“, sagte er und zeigte auf ein Bild von einem Mädchen, das aus einer Höhle hervortrat. Auf dem Gras davor stand eine Frau, die Arme weit ge-öffnet. „Die Königin der Unterwelt.“
„Der Unterwelt?“ Ava lehnte sich vor, um besser sehen zu können. „Welche?“
Der Blick, den James ihr zuwarf, hätte Pflanzen zum Welken bringen können. „Die, wohin die Toten gehen. Der Tartaros? Die Elysischen Felder?“
„Griechische Mythologie“, warf ich ein, während ich weiterblätterte. „Siehst du den Typen hier?“ Ich zeigte auf einen dunkelhaarigen Mann, der halb von Schatten verborgen war. „Das ist Hades, der Gott der Unterwelt. Herrscher über die Toten.“
„Wie Satan“, meinte James.
„Nein, nicht wie Satan“, widersprach Ava. Sie klang ein wenig zornig, doch James schien es entweder nicht zu bemerken, oder es interessierte ihn nicht. „Satan ist christlich, und die Unterwelt ist nicht die Hölle. Hades ist kein Dämon. Er ist einfach … jemand, der dafür zuständig ist, sich um die Seelen der Toten zu kümmern. Er sorgt dafür, dass sie bekommen, was sie verdienen.“
Ungläubig starrte ich sie an. „Ich dachte, du hast keine Ahnung von dem
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