Das grobmaschige Netz - Roman
Lingen wohnte in einem der Neubauten oben auf dem Berg. Ganz oben, im sechsten Stock, mit Blick über die ganze Stadt ... über das Tiefland und den Fluss, der sich zur Küste hinschlängelte.
Sie hatte einen Wintergarten mit Infrarotheizung und Tomaten, und dort tranken sie russischen Tee und aßen dünne Kekse und Marmelade.
»Ich sitze fast immer hier, wenn ich zu Hause bin«, sagte sie.
»Und wenn Platz genug wäre, würde ich wohl auch mein Bett hierherstellen.«
Van Veeteren nickte. Es war schon seltsam, hier zu sein. Er hatte das Gefühl, in einem warmen Glaskasten frei über der Welt zu schweben. Man hatte alles im Blick und war doch vollkommen isoliert.
An einem solchen Ort will ich meine Memoiren schreiben, dachte er.
»Was möchten Sie eigentlich wissen, Herr Kommissar?«
Widerwillig ließ er sich in die Wirklichkeit zurückholen.
»Frau Lingen«, sagte er. »Sie kannten Eva Ringmar doch schon seit Ihrer Schulzeit, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Und diese Zeit interessiert mich jetzt. Moment, das war ...«
»Mühlboden. Das Gymnasium.«
»Sie waren Klassenkameradinnen?«
»Ja, von 1970 bis 1973. Wir haben im Mai Abitur gemacht. . .«
»Sie sind in Mühlboden geboren?«
»Nein, in einem Dorf in der Nähe ... ich bin mit dem Bus zur Schule gefahren.«
»Und Eva Ringmar?«
»Auch. Sie wohnte in Leuwen, ich weiß nicht, ob Sie diesen Ort kennen.«
»Ich war einmal da«, sagte Van Veeteren.
»Ja, wir waren viele Fahrschülerinnen, es war eine große Schule. Das einzige Gymnasium im ganzen Bezirk, glaube ich.«
»Wie gut kannten Sie sie?«
»Eigentlich überhaupt nicht ... wir hatten nicht viel miteinander zu tun. Haben nie zur selben Clique gehört ... Sie wissen ja, wie das ist. Man geht in dieselbe Klasse, sitzt jeden Tag im selben Raum, aber von den meisten anderen hat man keine Ahnung.«
»Wissen Sie, ob sie ... ob Eva damals einen Freund hatte, einen, mit dem sie ... viel zusammen herumhing?«
Was für ein blöder Ausdruck, dachte er.
»Ich habe mich das auch schon gefragt«, antwortete Beate Lingen. »Und mir ist eine Geschichte aus der Oberprima eingefallen, das war im Herbst. Ein Junge ist damals verunglückt. Er war nicht in unserer Klasse, ich glaube, er war ein paar Jahre älter, aber ich bin ganz sicher, dass Eva irgendetwas damit zu tun hatte.«
»Wie das?«
»Ach, das weiß ich nicht ... ich glaube, es war bei irgendeinem Fest ... da waren einige Mädchen aus unserer Klasse, und dabei ist ein Unglück passiert.«
»Was war das für ein Unglück?«
»Der Junge ist ums Leben gekommen. Er ist von einem Felsen gestürzt ... das Fest fand in einem Sommerhaus in der Nähe von Kerran statt ... da draußen gibt es ziemlich hohe Berge ... ich glaube, sie haben ihn morgens gefunden. Ich nehme an, es war auch einiges an Alkohol im Spiel.«
»Aber Sie sind nicht ganz sicher, ob Eva wirklich dabei war?«
»Doch, das muss sie gewesen sein ... nachher wurde versucht, alles unter den Teppich zu kehren, glaube ich. Niemand wollte darüber sprechen, was genau passiert war ... als ob es auf irgendeine Weise eine Schande gewesen wäre.«
»Und es war wirklich ein Unfall?«
»Was? Ja ... ja, sicher.«
»Es gab keinen ... Verdacht?«
»Verdacht? Nein, was hätte das für ein Verdacht sein sollen?«
»Spielt keine Rolle«, sagte Van Veeteren. »Frau Lingen, haben Sie jemals mit Eva Ringmar über dieses Erlebnis gesprochen? Später, meine ich. In Karpatz, oder wenn Sie sie hier in der Stadt getroffen haben?«
»Nein, nie. In Karpatz hatten wir eigentlich keinen engeren Kontakt. Wir haben uns nur zweimal getroffen, einfach so, weil wir doch dieselbe Klasse besucht hatten. Es kam uns wohl fast wie eine Verpflichtung vor ... sie hatte genug andere Bekannte, glaube ich ... ja, und ich natürlich auch ...«
»Aber dann in Maardam — haben Sie über Ihre Schulzeit gesprochen?«
»Nein, wirklich nicht. Wir haben vielleicht den einen oder anderen Lehrer erwähnt, aber wir hatten doch ... wir hatten uns gewissermaßen in unterschiedlichen Kreisen bewegt. Und daher gab es nicht viel Gesprächsstoff.«
»Haben Sie den Eindruck, dass Eva Ringmar lieber nicht darüber sprechen wollte ... über ihre Vergangenheit?«
Beate Lingen zögerte.
»Ja«, sagte sie langsam. »Das kann schon so gewesen sein.«
Van Veeteren schwieg eine Weile.
»Frau Lingen«, sagte er dann, »es ist mir sehr daran gelegen, gewisse Dinge aus dieser Zeit in Erfahrung zu bringen ... aus der
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